Es könnte auch der Titel eines fiktionalen Endzeitdramas sein: die kalte Progression. Aber nein, von Drama und Endzeit keine Spur. Stattdessen geht es um ein bekanntes Steuerphänomen, über das sich jeder ärgert, der in den vergangenen Jahren eine Gehaltserhöhung bekommen hat. Denn die kalte Progression ist nichts anderes als ein Griff des Staates in den Geldbeutel der Bürger.
Das Phänomen entsteht, wenn Einkommens- und Lohnerhöhungen ganz oder teilweise durch Steuern aufgezehrt werden, weil mit dem höheren Einkommen auch ein höherer Steuersatz fällig ist. Soll die Gehaltserhöhung lediglich die Inflation ausgleichen, damit dieser seine Kaufkraft erhält, zahlt der dann durch den ansteigenden Tarifverlauf bei der Einkommensteuer – die Steuerprogression – im Verhältnis überproportional mehr Steuern an den Fiskus. Liegt die Nettoerhöhung des Gehalts dann unter der Inflationsrate, opfert der Steuerzahler reale Kaufkraft zugunsten des Fiskus.
Zwar ist die kalte Progression derzeit nicht so gravierend, weil die Teuerungsrate niedrig ist. Aber das Problem besteht schon mindestens seit 2010, ist der Regierung und den Interessenverbänden seit Langem bekannt, wird seit Langem diskutiert und als von allen Seiten als zutiefst ungerecht empfunden.
Zusätzliche Belastung für Familien (Ehepaar mit 2 Kindern) durch die kalte Progression in dieser Legislaturperiode ab einem zu versteuerndem Jahreseinkommen* von:
2014: 1115 Euro
2015: 1447 Euro
2016: 1787 Euro
2017: 2131 Euro
Gesamt: 6480 Euro
* Basisjahr 2010 (letzte Tarifreform), Annahmen: Tarif 2014; keine Tarifänderungen 2015 bis 2017; unterstellte Inflationsraten 2011 bis 2017: (2,1 %; 2,0 %; 1,5 ; 1,5 %; 1,8 %; 1,8 %; 1,8 %); Solidaritätszuschlag ist berücksichtigt; Quelle: Deutsches Steuerzahlerinstitut des Bundes der Steuerzahler
2014: 1115 Euro
2015: 1447 Euro
2016: 1787 Euro
2017: 2131 Euro
Gesamt: 6480 Euro
2014: 663 Euro
2015: 887 Euro
2016: 1122 Euro
2017: 1366 Euro
Gesamt: 4038 Euro
2014: 298 Euro
2015: 420 Euro
2016: 543 Euro
2017: 671 Euro
Gesamt: 1932 Euro
2014: 151 Euro
2015: 230 Euro
2016: 312 Euro
2017: 400 Euro
Gesamt: 1093 Euro
Die Abschaffung der kalten Progression ist sogar im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD festgehalten. Außer warmer Worte und vager Versprechen ist jedoch nichts passiert. Im Gegenteil: Als Vizekanzler Sigmar Gabriel eine Lösung bis zum Ende der Legislaturperiode ist Aussicht stellte, die sich mit den Steuermehreinnahmen aus dem Mindestlohn finanzieren lassen sollte, blockte Bundeskanzlerin Angela Merkel gleich ab.
Bund der Steuerzahler macht Vorschlag
Das Streben nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt, Entlastungen für die Kommunen und staatliche Investitionen wie etwa in die Verkehrsinfrastruktur oder Bildung ließen keine Spielräume für Steuerentlastungen, sagte Merkel als Replik auf Gabriel. „Deswegen komme ich mit meinen mathematischen Fähigkeiten zu dem Schluss, dass wir derzeit keinen Spielraum für Steuersenkungen haben“, sagte die CDU-Chefin der „Thüringischen Landeszeitung“. Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble mauert bei dem Thema.
Das dauert dem Bund der Steuerzahler offenbar alles viel zu lange. Deswegen hat der Verband nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der der kalten Progression ein für alle Mal den Garaus machen soll.
Das Lösungsprinzip ist schon länger bekannt: Jedes Jahr müsste die Regierung den Grundfreibetrag und die Einkommensstufen des Steuertarifs soweit anheben, dass die Erhöhung der Verbraucherpreise ausgeglichen wird. Weil diese Maßnahmen nur sporadisch erfolgen, die Inflation aber jedes Jahr ein Stück Kaufkraft aufzehrt, leiden vor allem untere und mittlere Einkommensgruppen zunehmend unter der kalten Progression.
"Steuertarif auf Rädern"
Der Steuerzahlerbund schlägt daher in seinem Gesetzentwurf neben einer Anhebung des Grundfreibetrages zum Ausgleich der bereits aufgelaufenen Negativwirkung auch einen „Steuertarif auf Rädern“ vor. Der heißt so, weil damit der Steuertarif automatisch an die Inflation gekoppelt werden soll – ein beweglicher Tarif also.
Gegenüber dem heutigen Steuersystem ergäbe sich dabei bis 2018 eine ansehnliche Steuerentlastung der Bürger. Ein Single-Haushalt mit einem Jahreseinkommen von 25.000 Euro würde 7,8 Prozent weniger Steuern zahlen – also 365 Euro im Jahr. Ein Ehepaar mit 30.000 Euro im Jahr hätte dann sogar eine Entlastung um 15 Prozent oder 489 Euro.
Höhere Einkommensgruppen würden dem Entwurf nach weniger entlastet. Ein Single mit 75.000 Euro im Jahr würde vier Prozent oder 1074 Euro weniger Steuern zahlen. Ehepaare mit 90.000 Euro jährlich könnten dann 6,4 Prozent oder 1593 Euro an Steuern einsparen. Insgesamt würden dem Staat gegenüber dem jetzigen Tarif im kommenden Jahr nach Berechnungen des Steuerzahlerbundes acht Milliarden Euro an Einnahmen entgehen, 2018 wären es schon 17 Milliarden Euro.
Klar, dass die Regierung auf soviel Geld nur ungern verzichtet. Aber weniger Geld würde sie deshalb nicht haben. Ohne Reformen dürften die Einkommensteuereinnahmen des Fiskus der Prognose zufolge künftig um rund fünf Prozent pro Jahr wachsen. Nach Angaben des Bunds des Steuerzahler würde das Einnahmeplus durch die Reform laut Gesetzentwurf auf etwa 3,5 Prozent pro Jahr sinken. Das ist immer noch deutlich mehr als der Zins, den Steuerzahler für ihre Ersparnisse bei der Bank erhalten.
Es ist zu befürchten, dass Merkel und Schäuble das Problem aussitzen und es vorerst nicht grundsätzlich beseitigt wird. Schließlich stand die Abschaffung der kalten Progression schon 2009 im Koalitionsvertrag von Union und FDP in der Vorgängerregierung. Wegen ihrer besonders in Steuerfragen erfolglosen Regierungsarbeit flog die FDP bei der vorigen Wahl sogar aus dem Bundestag. Sigmar Gabriel muss sich warm anziehen.