Ob die Zahlungsaufforderung der Stadt Bremen an einen Sohn fair ist, das musste der Bundesgerichtshof nicht entscheiden. Schwer nachvollziehbar ist sein Urteil trotzdem.
Folgender Fall wurde in letzter Instanz verhandelt: Ein Vater hatte vor mehr als 40 Jahren den Kontakt zu seinem damals fast erwachsenen Sohn abgebrochen, dessen Annäherungsversuche abgewiesen und ihn später bis auf den Pflichtteil enterbt. Im Alter wurde der Vater zum Pflegefall und kam ins Heim, inzwischen ist er seit zwei Jahren verstorben. Die Stadt Bremen forderte von dem Sohn, einem Beamten, die Zahlung von 9000 Euro Heimkosten. Die BGH-Richter entschieden nun: Der Sohn muss zahlen, denn der Vater hat trotz seines zurückweisenden Verhaltens seinen Unterhaltsanspruch gegen ihn nicht verwirkt.
Die WirtschaftsWoche hat den renommierten Duisburger Fachanwalt Jörn Hauß, Spezialist für das Thema Elternunterhalt, um eine Einschätzung des Urteils und die Konsequenzen daraus gebeten.
WirtschaftsWoche: Herr Hauß, halten Sie die Entscheidung des BGHs für gerechtfertigt?
Jörn Hauß: Nein, ich glaube, dass weder die Öffentlichkeit noch die Fachleute die Entscheidung verstehen werden. Wenn – wie der Bundesgerichtshof formuliert – der Elternunterhalt aus dem Gesichtspunkt der "familiären Solidarität" geschuldet wird, dann müssen massive Verletzungen der familiären Solidarität dazu führen, einen Unterhaltsanspruch der Eltern gegen die Kinder zu verneinen.
Der Vorwurf an die Richter dürfte lautwerden, dass hier zu Gunsten ärmerer Städte entschieden wurde, deren Sozialämter die Heimunterbringungs-Lasten nicht mehr tragen können. Kann die Kassenlage ein Argument für die Richter gewesen sein?
Diesen Vorwurf kann man dem Gericht nicht machen. Die Fälle der massiven Verletzung elterlicher Solidarität den Kindern gegenüber sind selten und werden es auch bleiben. Nicht jede "verkorkste" Kindheit und Jugend rechtfertigt den Verlust des Elternunterhaltsanspruchs. Der BGH hat die Verwirkungsnorm des Gesetzes eng ausgelegt, meiner Meinung nach zu eng.
Was müsste sich ändern?
Es wäre gut, wenn der Gesetzgeber prüfen würde, ob die Verwirkungsnormen, die es für den Kindsunterhalt - also der Pflicht von Eltern für ihre Kinder zu zahlen - längst gibt, ob die nicht auch für den Elternunterhalt gelten sollten. Oder aber ob Modifikationen erforderlich sind, weil der Elternunterhalt zu einem Zeitpunkt gefordert wird, zu dem das familiäre Band zu den Eltern in der Regel seit langem gelöst ist.
Das sind Verwirkungsgründe für Unterhaltspflicht
Was sind denn so schwere Verfehlungen eines Elternteils, dass ein Kind tatsächlich nicht für dessen Unterhalt aufkommen muss?
Da gibt es mehrere: Gewalt gegen Mutter und Kind, unterhaltsrechtliche Vernachlässigung, sexuelle Misshandlung oder unterbliebene Schutzhandlungen vor körperlicher oder sexueller Gewalt bleiben als Verwirkungsgründe sicher auch weiterhin bestehen.
Wie hoch ist der derzeitige Eigenbehalt und ist er in dieser Größenordnung richtig angesetzt?
Materiell ist der Elternunterhalt recht ausgewogen. Er trifft – wenn er richtig berechnet wird – nur gut verdienende Menschen. Niemand braucht zu befürchten, wegen des Elternunterhalts seinen Lebenszuschnitt nachhaltig verändern zu müssen, das eigene Haus wird nie, das Vermögen des Kindes nur dann angegriffen, wenn es sehr hoch ist und das Vermögen eines Schwiegerkindes ist immer unangreifbar.
Ist es immer noch so, dass je nach Wohlstand von Stadt oder Landkreis die Forderungen an die Kinder unterschiedlich ausfallen?
Nein. Wir haben einen bundesweiten Überblick über die Verwaltungspraxis im Elternunterhalt und können keine wesentlichen prinzipiellen Unterschiede feststellen.
Welche Chancen haben Kinder, die Summe nach unten verhandeln zu können, wenn sie sich überfordert fühlen?
Natürlich kann man im Einzelfall mit den Sozialhilfeträgern verhandeln. Die neigen aber richtigerweise nicht zur Basarmentalität, weil sie an Recht und Gesetz gebunden sind. Wenn der Elternunterhalt aber juristisch richtig bemessen wird, wird nur in wenigen Fällen eine wirtschaftliche Überforderung stattfinden. Allerdings sind fast alle Unterhaltsberechnungen der Sozialhilfeträger korrekturbedürftig, weil diese die betroffenen Kinder fast nie ausreichend über deren Rechte aufklären. Meist beansprucht der Elternunterhalt nur das Einkommen des unterhaltspflichtigen Kindes, das dieses über die eigene zusätzliche Altersvorsorge hinaus anspart. Das macht dann deutlich, dass durch den Elternunterhalt der persönliche materielle Lebenszuschnitt nicht vermindert wird. Aber etwas anderes ist zu der heutigen BGH-Entscheidung noch zu sagen.
Was meinen Sie denn?
Dabei geht es nicht um die materielle Seite des Elternunterhalts, sondern die psychische. Der betroffene Sohn wird nicht verstehen, in die Pflicht genommen zu werden, wo sich sein Vater dieser Pflicht entzogen hat.