Fehlanreize im Steuer- und Sozialsystem Höheres Einkommen kann ärmer machen

Das deutsche Steuer- und Abgabensystem ist nach einer Expertenstudie leistungsfeindlich und ungerecht. Vor allem untere und mittlere Gehaltsgruppen profitieren demnach zu wenig von höheren Einkommen.

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Hartz IV: Reform könnte laut Ifo 290.000 Arbeitsplätze schaffen Quelle: Fotolia

"Leistung lohnt sich nicht immer", lautet der Befund einer am Donnerstag veröffentlichten Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Für die Bezieher geringerer Einkommen könnten Mehrarbeit und Lohnzuwächse dazu führen, dass im Zusammenspiel mit Sozialabgaben, Transferleistungen und Einkommenssteuern gar Verluste entstehen. Auf der anderen Seite könnten Spitzenverdiener von einem zusätzlich verdienten Euro deutlich mehr behalten.

Grund für diese Ungerechtigkeit ist der Studie zufolge das Zusammenwirken von Steuer-, Abgaben- und Transfersystemen. Die Autoren schlugen als Konsequenz daraus vor, mit Reformen sicherstellen, dass sich Mehrarbeit und höhere Löhne speziell auch für untere Einkommensgruppen lohnt. Vor allem eine bessere Abstimmung der unterschiedlichen Transfersysteme könnte helfen. "Mehr Arbeit und Lohn müssen sich für die Krankenschwester genauso auszahlen wie für den Unternehmensberater. Dass sich mehr Erwerbsarbeit lohnt, ist eines der zentralen Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft", formulierte der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Aart De Geus.

Die Studie untersuchte anhand von sechs Musterhaushalten, welcher Anteil eines zusätzlich verdienten Euros wieder abgegeben werden müsste, etwa wegen Beiträgen zur Sozialversicherung, Einkommenssteuern oder durch den Entzug von Sozialleistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag. Das ist die effektive Grenzbelastung. So bleibe von einem hinzuverdienten Euro in einem Singlehaushalt mit einem jährlichen Bruttoeinkommen von 17.000 Euro nichts übrig. Bei einem Bruttoeinkommen von 75.000 Euro verbleiben dagegen 56 Cent in der Haushaltskasse.

Der Grund: Bei Geringverdienern würde angesichts des Mehrverdienstes im gleichen Ausmaß das Arbeitslosengeld II gekürzt. „In einigen Fällen finden wir Grenzbelastungen von über 120 Prozent, der hinzuverdiente Euro sorgt damit für 20 Cent netto weniger in der Haushaltskasse“, erklärte Manuela Barisic von der Bertelsmann-Stiftung. Zum Beispiel entfällt für einen vierköpfige Familie mit nur einem Einkommen ab 28.100 Euro im Jahr der Kinderzuschlag. Wer also nur einen Euro mehr verdient, verliert zugleich deutlich mehr als einen Euro. Die Grenzbelastung liegt also weit über 100 Prozent.

Aber auch bei Familien mit höherem Einkommen geht es ungerecht zu. Bei einem jährlichen Bruttoverdienst von 40.000 Euro für eine vierköpfige Familie bleiben von jedem zusätzlich verdienten Euro nur 56 Cent netto übrig. Hingegen kann ein vergleichbarer Haushaltstyp mit einem mehr als doppelt so hohen Einkommen von 90.000 Euro insgesamt 66 Cent behalten. Die Studienautoren fordern deshalb Änderungen am Gesamtsystem aus Einkommenssteuer, Sozialabgaben und Transferleistungen. „Mehr Arbeit und Lohn müssen sich für die Krankenschwester genauso auszahlen wie für den Unternehmensberater“, erklärte der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, Aart De Geus. Mit Reformen müssten die Regelungen so aufeinander abgestimmt werden, dass sich mehr Erwerbsarbeit für jeden lohne.

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