Wen beschäftigt in diesen Zeiten nicht die bange Frage: Wie rette ich mein Vermögen? Klug ist, Risiken zu streuen. Deswegen kann sich bisweilen auch empfehlen, in Bücher zu investieren.
Die vier mächtigen Bände des neuen juristischen Kommentars zum Primärrecht der Europäischen Union könnten durchaus Wertsteigerungspotenzial haben. Für das Mammutwerk „Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV“, erschienen im Verlag Mohr Siebeck, gibt es im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Entweder erklärt es genau diejenigen europäischen Verfassungstexte, die unseren Kontinent künftig maßgeblich prägen. Oder es gehört mit einem nahen Ende der Europäischen Union schon vor dem Erscheinen einer zweiten Auflage ins Antiquariat.
Der „Frankfurter Kommentar“ hat es in sich: Auf mehr als 6500 Seiten erläutern und kommentieren knapp 60 Wissenschaftler und Juristen den Vertrag über die Europäische Union, die Grundrechte-Charta der Europäischen Union und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union nach den Reformen im Vertrag von Lissabon. Die drei Herausgeber verbindet, dass sie Rechtsprofessoren in Frankfurt an der Oder sind. Das gibt dem Werk seinen Namen.
Zum Autor
Carlos A. Gebauer ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht, stellvertretender Vorsitzender des FDP-Kreisverbandes Duisburg, sowie Publizist und Autor. Zuletzt erschien 2014 sein Buch "Rettet Europa vor der EU: Wie ein Traum an der Gier nach Macht zerbricht".
Warum das Antiquariat droht? Nirgendwo berühren sich Macht und Recht mehr als im Verfassungsrecht. Folglich ist es ein besonderes Geschäft, Verfassungstexte zu interpretieren. Hinter jedem Gesetzesartikel lauert Politik. Scheitert also die Politik, dann scheitert auch die Verfassung und es war vergebliche Liebesmühe, sie kommentiert zu haben.
Den Herausgebern des Werkes war diese Gefahr erklärtermaßen bewusst. Dennoch machten sie sich an die Arbeit. Denn sie vertrauen nach wie vor ungebrochen auf die Wirkung jeder Krise auf dem Kontinent: einen Entwicklungsschub, hin zu europäischer Rechtsvereinheitlichung. Dann könnte sich das vierbändige Werk zum unverzichtbaren Standardkommentar zum EU-Recht mausern, ähnlich einem „Palandt“ für das Bürgerliche Gesetzbuch „dem Fischer“ für das Strafgesetzbuch. Kein bisheriger Kommentar hat EU-Recht bislang so umfassend behandelt.
Das Werk
Der "Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV", Herausgegeben von Matthias Pechstein, Carsten Nowak und Ulrich Häde, 1. Auflage 2017, Tübingen, ISBN 978-3-16-151864-5, ist im Verlag Mohr Siebeck erschienen.
Aber bevor das Werk zum juristischen Mainstream wird, könnte es an der Praxis scheitern. Trotz der erheblichen Bedeutung dieser Rechtsquellen werden diese in der täglichen Rechtspraxis noch immer merkwürdig selten genannt. Hinter vorgehaltener Hand geben Juristen in aller Regel auch zu, den Vertrag von Lissabon nie gelesen zu haben. Diese Lesefaulheit ist zwar einerseits verständlich, andererseits aber auch bedauerlich.
Bedauerlich ist auch, dass in der öffentlichen Diskussion noch viel zu selten auf die Charta der Grundrechte zurückgegriffen wird. Sie beschreibt und garantiert grundlegende Menschen- und Bürgerrechte, die unseren europäischen Alltag maßgebend prägen.
Die Völkerrechtlerin Carmen Thiele beispielsweise erläutert im Frankfurter Kommentar das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit als eines der ältesten Menschenrechte. Es konstituiert ein wesentliches Fundament unserer demokratischen Gesellschaft. Alle Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit, zum Beispiel Publikationsverbote, oder Beschränkungen der Informationsfreiheit bedürfen daher einer verfassungsrechtlichen Legitimation auf europäischer Ebene. Wer die aktuellen Debatten um Freiheiten im Internet verfolgt, der ahnt, welche Relevanz diese Kommentierungen haben können.
Das gleiche gilt für jede Diskussion um wirtschaftliche Bewegungsspielräume. Autor Jürgen Kühling beschreibt das klassische Grundrecht auf Eigentum in seiner zentralen Bedeutung für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung. Wirtschaftsfragen sind europäische Verfassungsfragen. Wer also in Europa wirtschaftet, sollte die Grundrechtecharta unter dem Arm tragen.