Rein rechtlich
Muss ein Arbeitnehmer sich dem Anspruch der grenzenlosen Erreichbarkeit fügen? Quelle: dpa

Hat jeder das Recht auf Abschalten?

Porsche-Betriebsratschef will eine Mailsperre für Arbeitnehmer nach Feierabend durchsetzen, um Stress vorzubeugen. Was Arbeitgeber laut Gesetz erwarten dürfen, wann ausklinken rechtlich erlaubt ist.

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Ein Anruf vom Chef am Freitagabend lange nach Dienstschluss. Oder die Mail am Sonntagnachmittag mit einer dringenden Bitte für die kommende Woche. Solche Dinge sind alltäglich. Die Digitalisierung des Arbeitsalltags hat die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit zunehmend verwischt. Arbeitnehmer sind über moderne Kommunikationsmittel überall erreichbar.

Die zentrale Frage lautet: Muss ein Arbeitnehmer sich diesem Anspruch der grenzenlosen Erreichbarkeit fügen? Oder kann der Arbeitgeber von seinen Angestellten tatsächlich erwarten, ständig über Handy, Tablet und Computer erreichbar zu sein?

Deutsches Arbeitsrecht hinkt digitaler Arbeitswelt 4.0 hinterher

In Frankreich wurde Anfang des Jahres 2017 gesetzlich geregelt, dass Arbeitnehmer das Recht haben, abzuschalten. In Deutschland ist dies nicht der Fall. Allerdings finden sich Regelungen im Arbeitsrecht und in der Rechtsprechung der Gerichte. Ein explizites Gesetz gibt es dagegen (noch) nicht. Das deutsche Arbeitszeitgesetz schützt Arbeitnehmer durch klare Festlegungen der einzuhaltenden Arbeitszeiten, insbesondere im Hinblick auf Sonn- und Feiertags- sowie Nachtarbeit. Aber „arbeiten“ Mitarbeiter, wenn sie eine Mail im Urlaub lesen und kurz beantworten? Arbeitsrechtlich sind viele Sachverhalte der digitalen Arbeitswelt noch nicht abschließend geklärt. Im Gegenteil: Das deutsche Arbeitsrecht hinkt der digitalen Arbeitswelt 4.0 erschreckend hinterher. Angesichts der immer lauter geforderten Notwendigkeit der Reduzierung von Stress am Arbeitsplatz sind klare Leitlinien gefragt.

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Laut Gesetz ist Arbeitszeit nicht nur die Zeit, in der tatsächlich gearbeitet wird, sondern der gesamte Zeitraum von Beginn bis Ende der Zeit, in der gearbeitet werden soll. Dies ist unabhängig davon, ob die in dieser Zeit angebotene Arbeitskraft vom Arbeitgeber tatsächlich in Anspruch genommen wird. Auch spielt es für die Klassifizierung als Arbeitszeit keine Rolle, an welchem Ort sich der Arbeitnehmer aufhält. Mischformen von Arbeitszeit und arbeitsfreier Zeit sind die „Arbeitsbereitschaft“, der „Bereitschaftsdienst“ oder die „Rufbereitschaft“, wie man sie etwa bei Ärzten kennt.

Neu entstanden sind Arbeitsformen wie zum Beispiel in der sogenannten „gig economy“, nach der etwa Lieferservice-Unternehmen mit nicht fest angestellten Arbeitskräften operieren, die pro Auftrag (Gig) „gehired“ werden. Bezahlt wird nur, wenn die Arbeitskraft konkret gebraucht wird. Die Abrufbereitschaft wird dagegen nicht vergütet. Gewerkschaften sprechen von digitalen Tagelöhnern.

Michael Magotsch. Quelle: PR

Arbeitszeit vs. Freizeitarbeit

Nach hergebrachtem Verständnis zeichnet sich die Arbeitsbereitschaft dadurch aus, dass sich der Arbeitnehmer am Arbeitsort für die Aufnahme seiner Tätigkeit bereithält. Bereitschaftsdienst hingegen liegt vor, wenn der Arbeitnehmer sich an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufhält, um erforderlichenfalls seine volle Arbeitstätigkeit aufnehmen zu können. Hierbei handelt es sich nach deutschem Rechtsverständnis jeweils um Arbeitszeit.

Für die Freizeitarbeit wiederum ist kennzeichnend, dass der Arbeitnehmer außerhalb des üblichen Arbeitsortes und außerhalb regelmäßiger Arbeitszeiten über Kommunikationsmittel ständig erreichbar ist. Er unterliegt dabei keinen Weisungen seines Arbeitgebers bezüglich eines bestimmten Ortes und ist vertraglich nicht verpflichtet, jederzeit in vollem Umfang tätig zu werden.

Eine Ausnahme bildet die Rufbereitschaft, bei der sich der Arbeitnehmer verpflichtet, erreichbar zu sein, um auf Abruf die Arbeit aufnehmen zu können. Die Rufbereitschaft wird als Ruhezeit gewertet. Kommt es aber zur tatsächlichen Inanspruchnahme der Arbeitsleistung während der Rufbereitschaft, so ist dies als Arbeitszeit zu qualifizieren. Ob eine Freizeitarbeit als Rufbereitschaft zu werten ist, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Dagegen spricht zwar, dass der Arbeitnehmer gerade nicht verpflichtet ist, sich jederzeit bereit zu halten.

Oft wird der Arbeitnehmer nur faktisch ständig erreichbar sein, ohne dass die Nichterreichbarkeit eine Pflichtverletzung darstellt oder negative Konsequenzen hätte. Allerdings wird es häufig keine Rolle spielen, dass der Arbeitnehmer die Tätigkeit freiwillig aufnimmt. In jedem Fall obliegt es dem Arbeitgeber, die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes durch den Arbeitnehmer zu gewährleisten. Das beginnt in der digitalen Welt bereits mit der Abwägung, ob ein Anruf getätigt oder eine Mail geschickt wird, obwohl der Arbeitnehmer sich im Feierabend oder Wochenende befindet.

Ständige Erreichbarkeit muss bezahlt werden

Kommt es zu einer tatsächlichen Inanspruchnahme, etwa infolge der Beantwortung von E-Mails oder der Teilnahme an Telefonaten nach Ende der regulären Arbeitszeit, stellen sich arbeitszeitrechtliche Folgefragen.

Zwischen dem Ende der täglichen Arbeitszeit und Beginn der nächsten Arbeitszeit müssen mindestens elf Stunden Ruhezeit liegen. Diese Zeit darf nicht durch Arbeit unterbrochen werden. Insofern kommt es auf die Intensität der Beanspruchung an. Eine kurze E-Mail unterbricht die Ruhezeit eher nicht, die Grenzen sind dabei aber fließend. Verstößt der Arbeitgeber gegen diese Regelungen, indem er die Einhaltung der Höchstarbeitszeiten oder Ruhezeiten schuldhaft nicht überwacht, begeht er eine Ordnungswidrigkeit.

Auch dürfen Arbeitnehmer an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen grundsätzlich nicht beschäftigt werden. Dies gilt entsprechend auch für die Verpflichtung zur ständigen Erreichbarkeit. Aber Vorsicht: Leitende Angestellte sowie Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, die zu selbständigen Entscheidungen in Personalangelegenheiten befugt sind, sind davon ausgenommen. Auf sie findet das Arbeitszeitgesetz keine Anwendung, eben so wenig wie etwa auf Besatzungsmitglieder in der Schiff– oder Luftfahrt; hier gelten - wie auch für bestimmte andere Berufe -Sonderregeln! Kommt es außerhalb der regulären Arbeitszeiten zur tatsächlichen Inanspruchnahme von Arbeitsleistung des Arbeitnehmers, muss sie entsprechend vergütet werden. Die ständige Erreichbarkeit außerhalb regulärer Arbeitszeiten führt daher in der Regel zu Überstunden. Zulässig ist eine arbeitsvertragliche Regelung zur pauschalen Abgeltung solcher Überstunden in engen Grenzen.

Vor allem bei der Vereinbarung von Nachtarbeit sind Arbeitgeber in Deutschland dringend angehalten, sich über einen Ausgleich für Nachtarbeit durch bezahlte freie Tage oder aber durch einen angemessenen Entgeltzuschlag Gedanken zu machen, dies zu dokumentieren und einen solchen Ausgleich auch ausdrücklich zu gewähren. Verstöße können mit einem Bußgeld geahndet werden. Bei vorsätzlichem Handeln drohen dem Arbeitgeber Geldbußen oder gar Freiheitsstrafen.

Redet der Betriebsrat mit?

Überwacht wird die Einhaltung der zu Gunsten des Arbeitnehmers bestehenden Gesetze durch den Betriebsrat. Er kann Informationen vom Arbeitgeber zum Arbeitszeitregime des Betriebs verlangen, etwa bezüglich Mehrarbeit, Beginn und Ende der Arbeitszeiten sowie Ruhepausen und Ruhezeiten. Der Betriebsrat hat in den meisten Fällen ein Mitbestimmungsrecht bezüglich der Verteilung der Arbeitszeit und der Pausenzeiten. Dies betrifft insbesondere auch die Einrichtung von Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft und Arbeitsbereitschaft, sowie die Anordnung von Überstunden. Daran ändert auch die Freiwilligkeit der Mehrarbeit nichts.

Die Typologie der Arbeitnehmer: Wer wie lange arbeitet und wie viel verdient

Für die Vergütung der Mehrarbeit bieten sich Arbeitszeitkonten an. In der Regel wird das Antworten auf E-Mails oder kurze Telefonate nur einen kurzen Zeitraum in Anspruch nehmen. Sie wird dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben und ist gegebenenfalls durch Arbeitsfreistellung auszugleichen. Dies ist in jedem Fall besser als eine pauschale Klassifizierung der außerbetrieblichen Erreichbarkeit als Arbeitszeit. Gleichwohl müssen auch hier die Grenzen der Höchstarbeitszeit und der Ruhepausen eingehalten werden.

Kein Zwang zur Erreichbarkeit

Liegt allerdings keine entsprechende Ankündigung des Arbeitgebers vor, können Arbeitnehmer, sofern sie nicht in leitender Position tätig sind, ihr Smartphone am Wochenende oder im Urlaub getrost abschalten. Eine Pflichtverletzung begehen sie dadurch nicht. Arbeitnehmer haben einen Anspruch auf einen in der Regel störungsfreien Feierabend oder Urlaub.

Eine Abmahnung oder gar Kündigung wegen eines ausgeschalteten Handys wäre in solchen Fällen unwirksam. Arbeitgeber sollten eindeutige Absprachen mit ihren Angestellten treffen. Sie helfen dabei, unnötigen Ärger zu vermeiden, etwa weil durch eine unbeantwortete Mail ein Auftrag durch die Lappen gegangen ist.

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