Streitfall des Tages Warum Flugreisende 1342 Tage warten mussten

Streik, schlechtes Wetter, technische Probleme - Die Zahl der Flugverspätungen ist in diesem Jahr rasant gestiegen. Reisende müssen das nicht akzeptieren. Wann die Fluggesellschaft einen Ausgleich zahlen muss.

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Der Fall

Aufgrund von technischen Problemen verzögerte sich der Abflug eines Passagierflugzeugs auf dem Flughafen München um über drei Stunden. Nachdem die Fluggesellschaft eine Entschädigung verweigert hatte, klagte ein Betroffener vor dem zuständigen Amtsgericht Erding und bekam eine Ausgleichszahlung zugesprochen.

Das Gericht (Az 3 C 1009/10/ vom 26. April 2011) begründete seine Entscheidung mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, wonach Passagiere verspäteter Flüge den Passagieren annullierter Flüge gleichgestellt werden sollten und einen Ausgleichsanspruch hätten.

Die Relevanz

Im vergangenen Jahr lag der Durchschnittwert einer Verspätung in Europa bei 33 Minuten. Das entspricht der europäischen Luftverkehrskontrollbehörde Eurocontrol zufolge einer Verschlechterung gegenüber dem Jahr 2009 von 17 Prozent. 44,8 Prozent der Flüge hatten fünf Minuten und mehr Verspätung. 23 Prozent aller Flüge verzögerten sich gar über 15 Minuten. Zum Vergleich: 2009 waren es erst 18 Prozent.

Die Gründe für den drastischen Anstieg der Flugverspätungen sieht Eurocontrol in dem strengen Winter, der zu Beginn des Jahres 2010 die Luftfahrt behinderte. Im April war es zudem der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajokull, der zu rund 100.000 Flugannullierungen führte.

Im Sommer verursachten Streiks in Frankreich, Spanien und Griechenland weitere Flugverspätungen. Und schließlich legte der frühe Wintereinbruch im November 2010 erneut den Flugverkehr über mehrere Tage lahm. In Deutschland nahmen die Verspätungen sogar noch deutlich stärker zu.

Nach der Statistik des Bundesverkehrsministerium summierten sich die Verspätungen der Flugzeuge im vergangenen Jahr in Deutschland auf insgesamt 1342 Tage. Das waren 62 Prozent mehr als im Jahr 2009, als 828 Tage Verspätung anfielen.

Die meisten Verspätungen gab es demnach am größten Flughafen Deutschlands, Frankfurt/Main. Dort mussten Fluggäste insgesamt 906 Tage auf verspätete Flüge warten. An zweiter Stelle lag München mit 181 Tagen. Danach folgten Düsseldorf (109), Berlin-Tegel (76), Hamburg (50), Köln/Bonn (8) und Stuttgart (4 Tage). Der Statistik zufolge verursachte schlechtes Wetter die häufigsten Wartezeiten. Allein in Frankfurt kam es wegen der Wetterlage zu Verspätungen von insgesamt 757 Tagen. Nur in Düsseldorf war der häufigste Grund für Verspätungen die zu geringe Flughafenkapazität.

Auch in diesem Jahr droht ein weiterer Anstieg der Verspätungen. Allein bis Ende Juli summierten sich die Wartezeiten an den deutschen Airports dem Bericht zufolge schon auf 730 Tage.

Die Rechte der Passagiere

Die Gegenseite

Die meisten europäischen Fluggesellschaften verweisen im Fall von Verspätungen auf die Regelung innerhalb der EU. So heißt es bei der Lufthansa zur Regelung von Verspätungen: „Verspätungen laut EU-Verordnung 261/04 liegen ab einer Verzögerung des Abfluges gegenüber der planmäßigen Abflugzeit von vier Stunden bei Flügen über 3500 Kilometer Entfernung, von drei Stunden bei Flügen zwischen 1500 und 3500 Kilometer sowie bei Flügen über 1500 Kilometer innerhalb der EU und von zwei Stunden bei Flügen bis zu 1500 Kilometer Entfernung vor.

Wenn absehbar ist, dass Ihr Flug eine große Verspätung haben wird, haben Sie das Recht von der Fluggesellschaft Betreuungsleistungen zu erhalten. Dies sind: Verpflegung in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit, gegebenenfalls Hotelübernachtung inklusive Transferkosten und die Möglichkeit für zwei kurze Telefonate, Faxe oder E-Mails.

Die Fluggesellschaft braucht Ihnen die Betreuungsleistungen nicht zu gewähren, wenn durch sie Ihr Abflug noch weiter verzögert würde. Bei Verspätungen über fünf Stunden haben Sie das Recht, sich die Kosten für den Flugschein für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte binnen sieben Tagen erstatten zu lassen, bzw. für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Reisezweck durch die Verspätung verfehlt wurde und gegebenenfalls Rückbeförderung zum Ausgangspunkt zum frühest möglichen Zeitpunkt.“

Es ist also bei Verspätungen unter fünf Stunden nicht von Ausgleichszahlungen, sondern von Unterstützungsleistungen die Rede.

Die Rechtslage

Grundlage für eine Entschädigung ist die Annullierung eines Flugs. Laut Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.11.2009 (Rs. C-402/07 und C-432/07) stehen aber nicht nur Fluggästen annullierter Flüge, sondern auch den Fluggästen verspäteter Flüge ein Anspruch auf Geldzahlung zu.

Nach der Fluggastrechteverordnung besteht allerdings kein Ausgleichsanspruch bei „außergewöhnlichen Ereignissen“, wenn vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“ Ein Beispiel, bei dem Ausgleichszahlungen wegen eines außergewöhnlichen Ereignisses nicht anfielen, weil die Luftfahrtunternehmen dagegen nichts unternehmen konnten, waren die Flugausfälle und Flugverspätungen wegen des Vulkanausbruchs auf Island.

Im vergangenen Jahr hat das Landgericht Frankfurt in einem Urteil (LG Frankfurt a. M., Urteil vom 23.9.2010: 2-24- S 28 /10) definiert, wann eine Verspätung vorliegt: dies seien Flüge, deren Abflug sich um mehr als drei Stunden verzögert. Als maßgebliche Zeit gilt dabei das Ablegen (Abdocken) aus der Parkposition (Startzeit). Eine um mehr als drei Stunden verspätete Ankunft am Zielflughafen löst dagegen keinen Ausgleichsanspruch aus.

Die Rechtssprechung zu einem Ausgleichsanspruch eines wegen Verspätung verpassten Anschlussfluges ist etwas verwirrend. So hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vor zwei Jahren festgelegt (vom 30.4.2009 - Xa /R 78/08), dass einem Fluggast, der seinen Flug wegen eines verspäteten Zubringerflugs nicht erreicht, ein solcher Anspruch nicht zu steht. Dagegen können – ebenfalls nach einer Entscheidung des BGH (Aktenzeichen: Xa ZR 15/10) – Fluggäste bei Verspätungen auf langen Reisen mit mehreren Teilstrecken mit höheren Entschädigungen rechnen.

Wie Reisende an ihr Geld kommen

Die Expertin

Flugreisende mit mehr als drei Stunden Verspätung haben nach Einschätzung von Petra von Rhein, Rechtsexpertin der Verbraucherzentrale Bayern, fast immer Anspruch auf finanziellen Ausgleich.

Weil nach dem EUGH Passagiere verspäteter Flüge denen annullierter Flüge gleichgestellt werden müssen, wenn sie einen Zeitverlust von mindestens drei Stunden erleiden, hätten sie auch finanziellen Ausgleich zu erhalten. Die Fluggesellschaft konnte sich in dem vom Europäischen Gerichtshof verhandelten Fall auch nicht auf einen technischen Defekt hinausreden.

Die in der Fluggastrechteverordnung der Europäischen Gemeinschaft (Nr. 261/2004) beschriebenen "außergewöhnlichen Umstände" seien nach herrschender Rechtsprechung eng auszulegen, sagt von Rhein. "Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass technische Probleme für sich genommen nicht als außergewöhnliche Umstände anzusehen sind."

Das Fazit

Die Ansicht vieler Flugpassagiere, bei einer deutlichen Verspätung am Zielort einen Anspruch auf eine finanzielle Entschädigung von der Fluggesellschaft zu haben, deckt sich nicht mit der Rechtssprechung. Relevant ist danach vielmehr eine Verspätung des Abflugs, sofern die Fluggesellschaft auch bei „außergewöhnlichen Umständen“ nicht alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“

Nützliche Adressen

Als Interessenverband für Verkehrsbeteiligte setzt sich die gemeinnützige Organisation Verkehrsclub Deutschland (VCD) e.V. für umweltbewusste, mobile Menschen, mehr Kundenfreundlichkeit der Fluggesellschaften und der Bahn und für die Verbraucherrechte der Passagiere ein (www.vcd.org).

Die Verbraucherzentralen der Länder widmen sich ebenfalls diesem Thema (www.vzbv.de).

Eine Schlichtungsstelle, die verkehrsträgerübergreifend die Beschwerden von Fahr- und Fluggästen bearbeitet, gibt es seit der Auflösung der Schlichtungsstelle Mobilität Ende 2009 nicht mehr. Eine Institution für Schlichtungen bei Streitfällen zwischen Fluggästen und Fluggesellschaften besteht damit nicht mehr. Die alternative Reiseschiedsstelle (www.reiseschiedsstelle.de) schlichtet nur zwischen Reisenden und nichttraditionelle Reiseanbieter. die bislang durch die Schlichtungsstelle öffentlicher Verkehr ersetzt werden

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