Streitfall des Tages Wenn die Krankenkasse das Wunschmedikament streicht

Krankenkassen schließen mit Arzneimittel-Herstellern Rabattverträge. Die Konsequenz für gesetzlich Versicherte: Sie können ihr Medikament nicht mehr frei wählen. Wie Patienten trotzdem an ihr Wunschmedikament kommen.

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Der Fall

Es hat lange gedauert, bis Anna A. optimal auf ihr Schilddrüsen-Medikament eingestellt war. Monatelang standen für die 45-Jährige Arztbesuche und Blutkontrollen auf dem Programm. Jetzt muss sie wegen neuer Rabattverträge Tabletten eines anderen Herstellers einnehmen. Und die wirken bei ihr nicht so gut.

„Bei Schilddrüsen-Medikamenten kommt es auf eine genaue Dosierung an“, erläutert Apothekerin Marion Weyandt-Spangenberg. Je nachdem, welche Hilfsstoffe ein Hersteller bei der Verarbeitung verwendet, wird ein mehr oder weniger hoher Anteil des Wirkstoffs im Körper freigesetzt. Von „Bioverfügbarkeit“ sprechen Experten da. „Bei Schilddrüsen-Präparaten kann es für Patienten entscheidend sein, ob 80 oder 95 Prozent des Wirkstoffs aufgenommen werden.“

Anna A. hat jetzt wieder Beschwerden wie Herzklopfen, Durchfall oder Schwitzen und muss unter Umständen neu eingestellt werden.

Die Gegenseite

Für Generika, also Nachahmerprodukte ehemals patentgeschützter Arzneimittel, gelten seit 1989 so genannte Festbeträge, also eine Summe, bis zu der die Krankenkassen die Kosten eines Arzneimittels übernehmen. Zusätzlich können die einzelnen Krankenkassen seit 2003 Rabattverträge mit den Arzneimittelherstellern aushandeln.

Apotheker müssen seither vorrangig das Mittel abgeben, für das die Krankenkasse des Patienten eine Rabattregelung mit dem Hersteller vereinbart hat. Bundesweit wurden 2010 dadurch 1,3 Milliarden Euro eingespart.

Aus Sicht der AOK stellen Rabattverträge ein wirkungsvolles Instrument zur Kostendämpfung dar: 2010 hat die Kasse dadurch bundesweit rund 520 Millionen Euro weniger für Medikamente ausgegeben. 2011 rechnet die AOK mit einem Einsparpotenzial von 700 Millionen Euro.

Einen Unterschied zwischen wirkstoffgleichen Medikamenten von verschiedenen Herstellern sieht die AOK nicht. „Die Präparate unterscheiden sich nur äußerlich durch Verpackung, Namen und Preis“, lässt sie ihre Versicherten auf der Homepage wissen. Vor diesem Hintergrund rät sie Patienten generell von der Möglichkeit ab, statt des Rabattmedikaments das Wunschpräparat in Vorkasse zu kaufen.

Welche Patienten auf ihr Wunschmedikament verzichten müssen

Die Relevanz

Aktuell rumort es im Hinblick diese Rabatt-Arzneimittel gewaltig: Zum 1. Juni traten bei der AOK die Rabattverträge der 6. Vertragstranche in Kraft, die insgesamt 80 Wirkstoffe umfassen. Insgesamt laufen aktuell Rabattverträge für 172 Wirkstoffe. Sie decken laut AOK alle relevanten Generika ab. Seither gibt es massive Lieferengpässe.

Der Grund: Die AOK konnte die Zuschläge für die neuen Rabattverträge wegen etlicher Nachprüfungsverfahren erst mit viermonatiger Verspätung erteilen. Damit blieb den Herstellern nicht genügend Zeit für die Produktion.

Den Ärger haben die Apotheken: Normalerweise müssen sie genau begründen, wenn sie ein anderes Medikament als das Rabatt-Arzneimittel ausgeben. Um die aktuelle Situation zu entschärfen, haben die AOKs mit dem Deutschen Apothekerverband (DAV) eine Übergangsregelung vereinbart – zunächst bis zum 31. Juli, dann verlängert bis 31. August. So lange müssen Apotheken nicht in aller Ausführlichkeit dokumentieren, wenn sie notgedrungen eine Alternative zum Rabattmedikament ausgeben.

Demnächst wird das Thema vielleicht sogar Staatsanwälte beschäftigen: Denn offensichtlich haben Apotheken Arzneimittel anderer Hersteller an Patienten abgegeben als auf den Rezepten abgedruckt, so die AOK in einer Pressemitteilung. Erst die Lieferengpässe förderten diese Praxis zutage: Allein im Juni wurden mehr als 30.000 Fälle bekannt, bei denen angeblich Medikamente ausgegeben wurden, die zu der Zeit aber gar nicht lieferbar waren.

Die AOK prüft nach eigenen Angaben derzeit die Vorfälle und „wird entsprechend die zuständigen Staatsanwaltschaften einschalten“.

Was Experten raten

Der Experte

Bei Patientenvertretern wie Apothekern sind Rabatt-Arzneimittel umstritten. Die Kosten im Gesundheitswesen gerade über die Schnittstelle Patient – Apotheker zu begrenzen, hält Klaus Meyer-Lutterloh für kontraproduktiv: „Für Patienten sind die Rabattverträge eher eine Zumutung“, sagt der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für bürgerorientiertes Versorgungsmanagement (DGbV), deren Mitglieder aus allen Bereichen des Gesundheitssystems stammen. „Kranke werden dadurch verunsichert.“ Schon eine neue Verpackung könne bei alten Menschen, die viele Medikamente einnehmen, zu Verwechslungen führen.

Der DGbV sieht weitaus höhere Einsparpotenziale durch eine bessere Therapietreue der Versicherten, unterstützt durch Patienten-Coaching. Dabei helfen speziell geschulte Begleiter den Kranken, ihre Medikamente regelmäßig zu nehmen und sich therapiegerecht zu verhalten. „Jeder zweite chronisch Kranke nimmt seine Arzneimittel nicht regelmäßig oder falsch“, erläutert Meyer-Lutterloh.

Mit allen Folgen, die das hat: Rückfälle, Krankenhaus-Aufenthalte und Arztbesuche, die sonst nicht nötig wären, bis hin zu einer dauerhaften gesundheitlichen Verschlechterung. Die Kosten mangelnden therapiegerechten Patientenverhaltens beziffern DGbV-Experten auf 15 bis 20 Milliarden Euro im Jahr.

Erste Versuche mit Patientenbegleitern gibt es bereits. So hat die Bosch BKK laut einem Bericht der Ärzte Zeitung in einer dreijährigen Evaluationsstudie Patientenbegleiter für 1064 Versicherte mit Krebs, Herzerkrankung oder Schlaganfall sowie für alte Menschen eingesetzt. Das Ergebnis: Die Gesamtkosten je Versichertem waren mit Patientenbegleiter um 28 Prozent niedriger.

„Wenn es um Einsparungen durch Rabattverträge geht, werden immer nur große Zahlen gehandelt“, kritisiert Fritz Becker, Vorsitzender des Deutschen Apothekerverbandes (DAV). Er fordert eine Effizienzkontrolle, um zu zeigen, mit welchem bürokratischen und logistischen Aufwand dieser Nutzen erzielt wird – und zu wessen Lasten die Einsparungen gehen. Denn im Moment fehlt jegliche Transparenz: Die Krankenkassen müssen nicht einmal die Höhe der ausgehandelten Rabatte offenlegen.

Wie Patienten trotzdem an Ihr Medikament kommen

Die Rechtsgrundlage

Der „Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung“ findet sich im Sozialgesetzbuch V § 129. Rabattverträge zwischen Krankenkassen und pharmazeutischen Unternehmen regelt das Sozialgesetzbuch V § 130a, Abs. 8.

Das Fazit

Rabatt-Arzneimittel sollten genauso gut wirken wie vergleichbare Produkte anderer Hersteller. Finanzieller Vorteil für Patienten: Die Zuzahlung fällt manchmal weg. Wer trotzdem ein anderes Präparat eines bestimmten Herstellers bevorzugt, kann unter bestimmten Bedingungen trotzdem an sein Wunschmedikament zu kommen.

Die Krankenkassen sind verpflichtet, ihren Versicherten vorab Auskunft über die Höhe der Erstattung zu geben. Die Nachfrage ist zu empfehlen, denn die Verwaltungskosten variieren von Kasse zu Kasse – und das beträchtlich:

Die Techniker Krankenkasse verzichtet im Interesse ihrer Versicherten darauf, Verwaltungskosten zu erheben. Die DAK wie auch die AOK Baden-Württemberg ziehen von dem errechneten Erstattungsbetrag die Rabatte und außerdem einen Verwaltungskosten-Abschlag in Höhe von fünf Prozent ab.

Bei der Barmer GEK beträgt der Abschlag für die entgangenen Rabatte inklusive Verwaltungskostenanteil pauschal zwischen 20 und 30 Prozent – je nachdem, ob der Preis über oder unter dem Apothekenverkaufspreis des teuersten Rabatt-Medikaments liegt.

Nützliche Informationen

Bundesgesundheitsministerium: Die wichtigsten Regelungen für Zuzahlung und Erstattung im Überblick: http://www.bmg.bund.de/krankenversicherung/arzneimittelversorgung/zuzahlung.html

Unabhängige Patientenberatung: http://www.unabhaengige-patientenberatung.de/

Bundesverband Verbraucherzentralen mit Wegweiser zu der nächsten Zentrale: http://www.vzbv.de.

Alle Teile der Serie "Streitfall des Tages": www.handelsblatt.com/streitfall

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