Art Report 2010 Kunst im Konditorei-Fenster

Wie hochkarätig die Kunstsammlung der Unternehmerfamilie Grässlin ist, zeigt der neue Art Report. Die Familie hilft ihrem Heimatort St. Georgen im Schwarzwald auf die Beine, wie ein Rundgang beweist. Außerdem: ausführliche Tabellen zu den vielversprechendsten Künstlern.

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Kippenberger-Porträts im Schaufenster der ehemaligen Konditorei

Rockbarde Peter Maffay, die Exfußballspieler Pierre Littbarski und Horst Hrubesch, Schriftsteller Heinz Konsalik: Sie alle hängen hier. Auch Ronald Reagan, Mao und Loki Schmidt dürfen nicht fehlen im „Süßen Eck“. Genauso wenig wie Peter Kraus, Harald Juhnke und Jassir Arafat. „Bekannt durch Film, Funk und Fernsehen und Polizei-Notrufsäulen“ hat Martin Kippenberger seinen insgesamt 21-teiligen Bilderzyklus getauft. Die 1981 entstandene Serie gehört zu den bekanntesten Werken des früh verstorbenen, hintersinnigen Kunst-Berserkers.

Wer die Bilder, die auf einer Auktion einen hohen sechsstelligen Preis erzielen würden, derzeit sehen will, muss hoch hinauf – in die tiefe Provinz. In die Gerwigstraße 1 in St. Georgen, einem 1000 Meter hoch gelegenen Schwarzwald-Städtchen. Kein Museum lockt Kunstfans hierher, sondern die schmucklosen Schaufenster einer ehemaligen Konditorei, direkt neben einem Sonnenstudio. „Hier“, erinnert sich Anna Grässlin, „habe ich mir als Kind oft was Süßes gekauft.“

Grässlin-Sammlung sucht seinesgleichen

Dass statt Naschwerk mittlerweile hochkarätige Kunst in der Auslage zu sehen ist, dazu hat die rüstige 78-Jährige ein gerüttelt Maß beigetragen: Seit 15 Jahren zeigt die Unternehmerfamilie aus dem Schwarzwald – Mutter Anna mit ihren Kindern Thomas, Bärbel, Sabine und Karola – Teile ihrer mehr als 1000 Werke umfassenden Sammlung zeitgenössischer Kunst. In einem Rahmen, der in Deutschland seinesgleichen sucht: Verteilt über die Gemeinde St. Georgen, lassen sich an rund 20 öffentlich zugänglichen Orten Gemälde und Zeichnungen, Skulpturen und Installationen, Fotos und Videos entdecken – in leer stehenden Ladengeschäften, verwaisten Etagen stillgelegter Fabriken und Schalterhallen von Banken. Im Heimatmuseum und in der aufgegebenen Bahnhofskneipe, in Parkanlagen oder den teils öffentlich zugänglichen Privathäusern der Sammlerfamilie: So gut wie überall in St. Georgen muss man mit Kunst aus dem Hause Grässlin rechnen. Einmal im Jahr stellen die Geschwister eine neue Bilderschau zusammen und verteilen sie auf die Ausstellungsflächen.

An Platz mangelt es nicht. Seit dem Niedergang der Uhren- und Phonoindustrie Anfang der Achtzigerjahre stehen viele Fabrikhallen und Läden in St. Georgen leer. Der Ausstellungsdeal: Kosten für Strom übernehmen die Grässlins, die Miete für die Räume entfällt. Findet sich ein regulärer Mieter für ein mit Kunst besetztes Ladengeschäft, ziehen die Grässlins in ein anderes, freistehendes Schaufenster um. „Je größer unsere Sammlung geworden ist, desto mehr fühlten wir uns verpflichtet, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen“, sagt Karola Kraus, jüngste Grässlin-Tochter und derzeit Sprecherin der Sammlerfamilie. „Ein neuer Weg, Bürger unserer Stadt, aber auch Touristen an die Kunst heranzuführen.“

Nur die Etablierten des Kunstmarkts

Und was die vier Geschwister in den vergangenen knapp 30 Jahren zusammengetragen haben, ist nicht von schlechten Eltern: Arbeiten von rund 40 zeitgenössischen Künstlern, darunter Gemälde von Albert Oehlen, Georg Baselitz und Martin Kippenberger oder Skulpturen und Installationen von Günther Förg und Franz West – in der Sammlung Grässlin tummeln sich Künstler, die seit Jahren zu den Etablierten des Kunstmarkts gehören.

Das zeigt auch ein Blick auf den aktuellen Art Report von Art Logistics und WirtschaftsWoche: Allein neun derin der Grässlin’schen Sammlung oft schon seit Jahrzehnten vertretenen Künstler haben einen Platz unter den Top 100 der ewigen Bestenliste. Oder stehen kurz vor dem Eintritt in den Kunst-Olymp – wie etwa Tobias Rehberger, der 2009 auf der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde und derzeit mit einer großen Vasen-Skulptur im 2006 eröffneten Kunstraum Grässlin zu sehen ist.

Familienporträt (Clegg/Guttmann) mit Sabine, Anna, Thomas, Bärbel Grässlin und Karola Kraus: Feines Näschen für höchste Qualität Quelle: Clegg & Guttmann, The Art Collectors, 2008

Für ihr feines Näschen, früh höchste Qualität zu erkennen, vor allem aber „wegen ihrer herausragenden Verdienste um die Vermittlung moderner Kunst“ verleihen der Bundesverband Deutscher Galerien und die Kölner Messegesellschaft den diesjährigen Preis der Kunstmesse Art Cologne der Sammlerfamilie aus dem Schwarzwald. Sie zählt zu den erfolgreichsten Netzwerkern des Kunstbetriebs: Über eine gemeinsame Stiftung finanzieren die Geschwister den Ausstellungsbetrieb, neue Arbeiten erwerben sie ohne festen jährlichen Etat, nach gemeinsamer Absprache, finanziert aus den Erträgen des Familienunternehmens und den Erträgen aus den Anteilen an der Grässlin KBS (die zu den europaweit wichtigsten Vertreibern von Kunststoffen zählt) sowie aus privaten Mitteln der Geschwister: Sabine führt das Restaurant Kippys, Karola Kraus, Stiftungsratsvorsitzende, ist seit knapp drei Jahren Direktorin der Kunsthalle Baden-Baden und designierte Direktorin des Museums für Moderne Kunst in Wien, Bärbel Grässlin führt seit Jahren in Frankfurt eine renommierte Galerie, Thomas Grässlin engagiert sich für eigene Unternehmungen wie das Projekt „Echtwald“.

Zu den von ihr vertretenen Künstlern gehört etwa der junge Maler Stefan Müller, dessen Arbeiten derzeit auch in einer großen Einzelausstellung in der Baden-Badener Kunsthalle zu sehen sind. Und sich in der Sammlung Grässlin finden. „Die letzten 20 Jahre habe ich mir ein internationales Netzwerk erarbeitet“, sagt Karola Kraus. „Wenn es sich um international wichtige Künstler handelt, kann es punktuell Überschneidungen zwischen meinem Arbeitsfeld und der Privatsammlung geben.“

Neue Pfade seit den 70ern

Die führt auch das geistige Erbe des Vaters Dieter Grässlin fort: Der kunstsinnige Unternehmer – Grässlin senior baute nach dem Krieg ein Unternehmen für Zeitschaltuhren auf, das im Jahr 2000 an den US-Konzern General Electric verkauft wurde – hatte mit Gattin Anna seit Ende der Sechzigerjahre eine beeindruckende Informel-Sammlung zusammengetragen, mit Werken von Künstlern wie Karl Otto Götz, Gerhard Hoehme oder Emil Schumacher. Malern, die im Dritten Reich als entartet galten und nach dem Ende der Nazi-Diktatur gegen das Kriegstrauma anmalten. Und von denen viele bei den Grässlins ein- und ausgingen.

Nach dem frühen Tod ihres Vaters 1976 folgten die Grässlin-Kinder der Spur der Eltern – und beschritten doch ihre eigenen Pfade. Über Bärbel Grässlin, die in der Stuttgarter Galerie Max Hetzler arbeitete, entdeckte die Familie nach und nach Künstler ihrer eigenen Generation, die wie sie in den Fünfzigerjahren geboren waren und Anfang der Achtzigerjahre erste Erfolge feierten – darunter die Maler Hubert Kiecol, Albert und Markus Oehlen oder die Bildhauer Reinhard Mucha und Meuser.

Enge Verbindung zu Martin Kippenberger

Zu einigen Künstlern entstand enger Kontakt: Vor allem zu Martin Kippenberger, den Bärbel Grässlin Ende der Siebzigerjahre kennenlernte. Und weil sich Kippenberger nach ausschweifenden Jahren in Berlin mit Ende 20 eine Auszeit nehmen wollte, lud ihn die Unternehmerfamilie 1980 für ein Jahr in ihr Schwarzwälder Heim. Als „Sahara-Programm“ bezeichnete der Künstler seinen Vorsatz, in dieser Zeit ohne Alkohol zu leben. „Er suchte Familienanschluss, konnte schlecht allein sein – und kam wie ein Gewitter über uns“, erinnert sich Karola Kraus, die öfter die Schule schwänzte, um sich in stundenlangen Gesprächen von Kippenberger in die wilde Welt der Kunst einweihen zulassen, die mit der behüteten Welt ihrer Schwarzwälder Heimat so gar nichts gemein hat.

Schwester Sabine nötigte er zu Kneipentouren, die er bis in den frühen Morgen verlängerte – indem er der Grässlin-Tochter für jede zusätzliche halbe Stunde ein halbes Bild versprach. Mit ein Grund, warum das Werk des Enfant terrible der damaligen deutschen Kunstszene mit rund 300 Arbeiten aus allen Werkphasen die dominanteste Position in der Grässlin’schen Sammlung einnimmt. Arbeiten, die vor 30 Jahren oft nicht mehr als 500 Mark kosteten. Und heute schon mal sechsstellige Euro-Beträge wert sind.

„Wir freuen uns, wenn die von uns gesammelten Künstler erfolgreich sind und ihre Werke im Wert steigern“, sagt Karola Kraus, „aber als Kapitalanlage haben wir unsere Sammlung nie verstanden.“ Sondern als Versuch, Künstler mit einer gemeinsamen Geisteshaltung zu vereinen: „Sie denken konzeptuell, sind gesellschaftskritisch, ironisch, rebellisch, widersprechen oft dem bürgerlichen Verständnis von zeitgenössischer Kunst.“

Rehberger-Installation

Auch dem der eigenen Mutter. „Ich habe die Entscheidungen meiner Kinder immer respektiert“, sagt Mutter Anna Grässlin, „auch wenn ich sie nicht immer nachvollziehen konnte.“ Zum Beispiel, als ein Spediteur zwei Paletten lieferte – die Kippenberger-Skulptur „Müttergenesungswerk“. „Da war ich doch leicht irritiert“, erinnert sich Anna Grässlin. „Als sie dann aber auf einem Sockel installiert waren und ich den Titel der Arbeit gelesen hatte, habe ich den frechen Kippenberger’schen Witz verstanden.“

Außerhalb der Familie lief die Auseinandersetzung mit dem Kunstverständnis der Grässlin-Geschwister nicht immer so reibungslos ab: Als die Grässlins 2008 in einem Schaufenster das großformatige Ölgemälde „Karl Marx, Blowjob“ des philippinischen Künstlers Manuel Ocampo ausstellten, kamen Proteste aus der Bevölkerung, worauf die Familie eine öffentliche Stellungnahme abgab und das Werk dann entfernte. Dieses Jahr gab es Ärger mit Mitgliedern eines Heimatvereins, weil US-Fotograf Christopher Williams für das jährliche Ausstellungsplakat passend zum Motto „Männer Frauen – Porträts aus der Sammlung“ einen grell kolorierten Schwarzwälder Bollenhut in rosa und blau gewählt hatte.

"Das ist positives Standortmarketing"

„Absolute Ausnahmen“ sind diese Reaktionen für Michael Rieger. Der Bürgermeister von St. Georgen ist froh über das Engagement der Grässlins. „Die Kunstsammlung trägt viel bei zur Attraktivität der Stadt“, sagt er, „das ist positives Standortmarketing.“ Es ist für Rieger selbstverständlich, das Rathaus, einen nüchternen Zweckbau aus den Siebzigerjahren, für die Kunst zu öffnen – selbst wenn sie nicht immer schmeichelhaft für die Damen und Herren des Stadtrats ausfällt: Derzeit etwa hängen im Sitzungssaal Gemälde von Albert Oehlen – Porträts des Rats der Pharisäer, die Jesus einst zum Tode verurteilten.

Spitzen, die Rieger und der Stadtrat leicht aushalten – wissen sie doch um die Bedeutung der Sammlung für das Schwarzwaldstädtchen. Nach der Pleite des Schallplattenspieler-Produzenten Dual 1982 gingen innerhalb kurzer Zeit mehr als 5000 Arbeitsplätze verloren. Die Einwohnerzahl schrumpfte von 17 500 auf 14 500. Immer mehr Fabriken machten dicht, immer mehr Läden standen leer. Bis die Grässlin-Geschwister Thomas und Bärbel Mitte der Neunzigerjahre die Idee hatten, die verwaisten Räume mit Kunst zu bestücken.

8000 Besucher jährlich allein wegen der Sammlung

Der erste „Raum für Kunst“ entstand 1996 im Möbelhaus Finkbeiner, das sein Geschäft damals umstrukturierte. In den Folgejahren kamen zahlreiche Kunststandorte hinzu, etwa das Foyer der Sparkasse – in diesem Jahr mit zwei sperrigen Skulpturen von Markus Oehlen. 2006 schufen die Grässlins ein neues Highlight: den Kunstraum Grässlin, einen rund 200 Quadratmeter großen Schauraum mit Lager und Restaurant. „Wir wollten die Sammlung da präsentieren, wo sie hingehört“, sagt Karola Kraus. „Hier in St. Georgen, wo die Familie ihren Lebensmittelpunkt hat.“

Lokalpatriotismus, der sich lohnt für St. Georgen – 8000 Besucher kommen jedes Jahr allein wegen der Kunstsammlung. Ausstellungseröffnungen werden als Volksfest mit Schnitzel und Würstchen fürs ganze Dorf gefeiert. Und immer öfter übernehmen Abiturienten des örtlichen Gymnasiums Führungen durch die Räume für Kunst.

Die Sammlung könnte bald einen weiteren Anlaufpunkt im Ort finden – einen leerstehenden Supermarkt. „Wir könnten dort viele Installationen zeigen, die seit Jahren im Lager stehen“, sagt Karola Kraus. Oder eine raumgreifende Skulptur, die demnächst zur Sammlung gehören wird: An Ostern tagten die Geschwister im Haus der Mutter im Schwarzwald – und besiegelten den Kauf einer mehr als sechs Meter langen Sitzskulptur von Franz West, „die unsere Sammlung von Werken dieses Künstlers wunderbar ergänzt“.

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