Berufsunfähigkeit Wie Versicherungen Berufsunfähigen ihr Geld verweigern

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Papierkrieg mit Versicherer droht

Der Empfang der Uniklinik wirkt einladend: schlanke Säulen, gedämpftes Licht, eine bordeauxrot gepinselte Wand. Auf dem Weg ins Arztzimmer müssen Oliver W. und sein Anwalt an den Wegweisern vorbei. Im Untergeschoss ist die Musik- und Bewegungstherapie, unterm Dach die Ergotherapie. Rechts öffnet sich unverhofft die Tür zu einer Station. Eine Frau im Bademantel reckt den Kopf nach draußen. Sie hat die Augen weit aufgerissen und grinst, von Medikamenten beseelt, über ihr ganzes Gesicht. Eine Pflegerin zupft sanft an ihrem Arm und zieht sie zurück hinter die Tür aus Milchglas.

Etwa die Hälfte aller Berufsunfähigkeitsfälle werde heute durch Krankheiten wie Rückenleiden und psychische Erkrankungen ausgelöst, schreibt die Allianz auf ihrer Internet-Seite. Doch bevor die Rente tatsächlich aufs Konto fließt, steht dem Kunden oft ein zermürbender Papierkrieg mit dem Versicherer bevor. Gerade Personen, die dann nicht mehr arbeiten können, fühlen sich oft überfordert, lückenlose Unterlagen für den Versicherer zusammenzuklauben. Versicherer müllten Kunden mit Formularen zu, viele der gesundheitlich angeschlagenen Kunden verfolgten ihr Anliegen irgendwann nicht mehr weiter, sagt ein Hamburger Versicherungsberater. Geschädigte dränge die Branche so in die Mühle aus „Gutachtern, Verschleppen und Verzögern“. Der Versicherer sitze dabei immer am längeren Hebel.

"Zermürbungstaktik"

Recht haben und recht bekommen liegen plötzlich unerreichbar weiter auseinander. Kranke empfinden die ständigen Rückfragen aus der Verwaltung dann als erniedrigenden Bittgang. Oliver W. etwa bezeichnet es als „Verzögerungs- und Zermürbungstaktik“, dass die Allianz immer wieder Informationen anfordert: „Mal fehlen betriebswirtschaftliche Auskünfte, mal fehlen Befundberichte, mal sind Befundberichte unklar“, sagt er.

Mit der Versicherungsbürokratie sind gerade psychisch Kranke oft überfordert, sie schmeißen bei der kleinsten Hürde hin oder geben sich bei einem Vergleich mit dem Spatz in der Hand zufrieden, um schnell Geld zu sehen. So weist der Ombudsmann für Versicherungen in seinem Jahresbericht 2012 darauf hin, dass die „Beschwerden zur Berufsunfähigkeitsversicherung“ oft „durch die schwierige finanzielle Situation der von Krankheit betroffenen Versicherten“ gekennzeichnet seien.

Das extreme Ungleichgewicht zwischen Kunde und Versicherer ist bedenklich: Der Versicherer hat die finanziellen Mittel, ein Verfahren durch alle Instanzen zu peitschen – wer nicht mehr arbeiten kann, lebt vom Ersparten und scheut die Kosten.

Versicherte seien oft bereits „mit der Leistungsbeantragung“ überfordert, meint auch der Bund der Versicherten (BdV). Ungezählt jedoch wird wohl bleiben, wie viele Kunden so auf der Strecke bleiben.

Die Hauptgründe für eine Berufsunfähigkeit

"30 Prozent abgelehnt"

Mit Zahlen aufwarten kann hingegen der schlagkräftige Versichererverband GDV. Er hat seine Mitglieder zu ihrer Regulierungspraxis befragt. Ergebnis: Versicherer erkennen nur 70 Prozent der Leistungsanträge an. In den restlichen Fällen ist der Kunde – angeblich – nicht zur Rente berechtigt, sein Gesundheitszustand verbessert sich schlagartig wieder oder der Versicherer tritt vom Vertrag zurück. Sieben von 100 Anträgen weisen Versicherer zurück, weil der Kunde bei Vertragsabschluss falsche Angaben gemacht habe – „Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht“ heißt dies im Versicherungsdeutsch. Hat der Kunde beispielsweise Vorerkrankungen verschwiegen, muss der Versicherer später nicht zahlen.

Im Schnitt gehen zwei von 100 Berufsunfähigkeitskunden, die eine Rente fordern, vor Gericht, weil der Versicherer die Zahlung verweigert. Die Hälfte davon wird durch einen Vergleich ruhiggestellt. Kommt es zum Schwur, urteilen die Richter meist zugunsten der Versicherer – nur 15 Prozent der Urteile gaben am Ende den Kunden recht.

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