Finanzkrise Die Enteignung der Mittelschicht

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Wie die Finanzkrise die US-Amerikaner ärmer macht

Wohl kaum. Ansprüche aus Betriebsrenten und Versorgungswerken machen hierzulande nur sechs Prozent des Finanzvermögens der privaten Haushalte aus – insgesamt 262 Milliarden Euro. Und die Pensionskassen der Unternehmen leiden unter demselben Problem wie die Lebensversicherer: niedrige Zinsen.

Laut Unternehmensberatung Towers Perrin haben die Pensionsfonds der Dax-Unternehmen 2008 knapp 13 Milliarden Euro am Kapitalmarkt verloren, ihr Vermögen schrumpfte auf 125 Milliarden Euro. Dem stehen Pensionsverpflichtungen von 191 Milliarden Euro gegenüber. Die Differenz von rund einem Drittel müssen die Unternehmen verdienen. Die Lücke ist dreimal so hoch wie die Summe der gesamten Gewinne der Dax-Konzerne im Geschäftsjahr 2008.

Verglichen mit den Sorgen in den USA sind die deutscher Pensionskassen allerdings gering. US-Pensionsfonds, die massiv in Aktien investieren, haben bereits drei Billionen Dollar verloren. „Aktienquoten von 60 Prozent sind dort keine Seltenheit“, sagt Thomas Jasper von Towers Perrin. Das führt zu großen Deckungslücken der Pensionspläne – ebenso wie in den am US-Vorbild ausgerichteten Niederlanden und in Großbritannien.

In den USA spricht jeder Vierte von der Halbierung seines Vermögens

Suzanne Brereton hat derzeit allerdings dringendere Sorgen als die Altersvorsorge. Die 53-jährige geschiedene Mutter zweier Teenager durchlebt den tiefen Fall von der Mittelschicht in die Armut. 17 Jahre lang war sie von Sevenoaks, einem begüterten Vorort Londons, jeden Tag in die City gependelt. Als Chefsekretärin eines Investmentbankers verdiente sie jährlich 55.000 Pfund, kaufte ein Einfamilienhaus und einen Landrover, leistete sich Karibik-Reisen.

2008 wurde ihr Chef versetzt, sie verlor ihren Job. Mehrere Hundert Bewerbungen blieben ohne Antwort, selbst der örtliche Supermarkt, wo sie als Putzfrau Arbeit suchte, will sie nicht haben. Heute lebt Brereton von ihren knappen Ersparnissen und von dem auf 182 Tage begrenzten Arbeitslosengeld von 60,50 Pfund (65 Euro) in der Woche. Sie dreht die Heizung ab und duscht nur kalt. „Nie hätte ich gedacht, dass mir so etwas passieren könnte“, seufzt sie.

Derzeit wohnt sie noch in ihrem Haus, dessen Preis um rund 20 Prozent gefallen ist. Weil sie ihre Hypothek von 235.000 Pfund nicht mehr bedienen und trotz eines drastischen Preisnachlasses auch nicht verkaufen kann, rechnet sie in den nächsten Tagen mit Räumungsbescheid und Zwangsversteigerung. Dann wird sie wohl in eine Sozialwohnung ziehen müssen. Das Haus, wichtigster Bestandteil ihrer Altersversorgung, wäre verloren.

In der US-Mittelschicht lässt die Krise den „Net Worth“ rapide schmelzen – das Nettovermögen, für die in Gelddingen ungenierten Amerikaner eine ganz wichtige Größe. Die danach befragten Leser des „Wall Street Journal“ gaben kürzlich deprimiert zu Protokoll, ihre Finanzvorräte schrumpften durch die Krise um rund 25 Prozent; jeder Vierte sprach gar von der Halbierung seines Vermögens.

Ruhestand rückt für amerikanische Arbeitnehmer in weite Ferne

Die US-Häuserpreise fallen weiter

„Das Platzen der Immobilienblase“, so prognostiziert das Washingtoner Center for Economic and Policy Research in einer Studie, „wird voraussichtlich den größten Teil, wenn nicht die gesamten Gewinne eliminieren, die Familien bei der Vermögensansammlung in den vergangenen zwei Dekaden gemacht haben.“ Verschärfend hinzu kommt der Crash am Aktienmarkt: Sieben Billionen Dollar verloren US-Bürger mit direkt gehaltenen Aktien.

Damit entspricht der Vermögensverlust der US-Amerikaner seit Anfang 2008 dem 1,5-fachen Jahreseinkommen. „Die Haushalte haben quasi anderthalb Jahre lang umsonst gearbeitet“, sagt Harm Bandholz, Volkswirt bei der Bank UniCredit. „Der wohlverdiente Ruhestand ist für viele Arbeitnehmer in weite Ferne gerückt.“

Hinter den nackten Zahlen verbergen sich Millionen tragischer Einzelschicksale. Die neuen amerikanischen Slums, Zeltstädte außerhalb großer Städte wie zum Beispiel nahe Sacramento, wachsen. „Der Absturz von einem bescheidenen Wohlstand in die Obdachlosigkeit kann ganz schnell passieren, denn die meisten Familien haben keine Reserven“, sagt Leslie Linfield vom Institute for Financial Literacy, das die US-Bürger in Finanzfragen weiterbilden will.

Ihre Wurzeln hat die zunehmend prekäre Lage der Mittelschichten in den Achtzigerjahren, als sich die gesellschaftsspaltende Schere zwischen schamlos hohen Managergehältern und beschämenden Niedriglöhnen immer weiter auftat – zwei Jahrzehnte früher als in Kontinentaleuropa. Nach Margaret Thatcher war es vor allem US-Präsident Ronald Reagan, der im Namen der Eigenverantwortung einen „Kreuzzug für die Demontage des Wohlfahrtsstaats“ (Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman) initiierte, Mindestlöhne drückte und Gewerkschaften entmachtete.

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