Finanzkrise Die Enteignung der Mittelschicht

Crash, Niedrigzinsen, Schuldenfalle: wie die Krise Vermögen und Vorsorge der Mittelschicht zerlegt.

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Demonstrant in London Quelle: rtr

Am ersten Apriltag, als die britische Mittelklasse die Bank von England belagert, strahlen die hellen Sandsteinsäulen der 1694 gegründeten „Old Lady“ im gleißenden Sonnenlicht. Tausende Demonstranten versammeln sich auf der Threadneedle Street, rund um die Bank und die alte Londoner Börse, getrieben von der Wut auf die Krise, das Geld und die Gier – und von der Angst um die eigene Zukunft.

Es sind längst nicht nur vermummte Antikapitalismus-Aktivisten, die am Rande des G20-Gipfels demonstrieren; die globale Rezession treibt auch brave Steuerzahler aus der Mittelschicht auf die Straße. „Ich habe genug von Bankern, die sich selbst bereichert haben“, sagt die 64-jährige Christine Hickey aus dem Londoner Vorort Sutton. „Leute verlieren ihre Jobs und ihr Heim, mir reicht es einfach.“ Die für den Schlamassel verantwortlichen Manager sollten einen Teil ihrer Einnahmen an die Gemeinschaft zurückgeben, fordert Caroline Carter, eine 49-jährige Finanzberaterin aus der südenglischen Grafschaft Surrey. Andere denken bereits an ihre verdüsterte Zukunft: „Für jeden Job, um den ich mich bewerbe, konkurriere ich mit 150 anderen“, sagt der 35-jährige Londoner Nathan Dean, und: „Ich musste mich zum ersten Mal in meinem Leben arbeitslos melden.“ Nathan kann jetzt weder Geld zurücklegen noch Pensionsansprüche aufbauen. Und Nathan weiß, dass er und seine Generation die Unsummen werden bezahlen müssen, die jetzt zur Rettung der Banken ins Finanzsystem gepumpt werden.

Großdemos gegen Krisenverursacher

Bei Anlegern und Steuerzahlern wachsen Wut und Zukunftsangst – auch in Deutschland. In Bielefeld, Mainz und Hamburg gingen Anleger auf die Straße, die ihre Altersvorsorge mit Zertifikaten der insolventen Lehman Brothers verloren haben. In Berlin protestierten Ende März mehr als 20.000 unter dem Motto „Wir zahlen nicht für Eure Krise“, in Frankfurt waren es mehr als 12.000, die eine schweigende Mehrheit repräsentierten. Denn von der Krise getroffen wird vor allem die Mittelschicht, zu der Haushalte mit einem Netto-Jahreseinkommen zwischen 35.000 und 70.000 Euro zählen. Die Durchschnittsverdiener sind besonders stark durch Steuern belastet. Der deutsche Spitzensteuersatz von rund 42 Prozent greift eben nicht nur bei Spitzenverdienern, sondern schon ab einem zu versteuernden Einkommen von gut 52.000 Euro (demnächst 60.000 Euro). In einer Studie der Beratungsgesellschaft Mercer landete Deutschland wegen der hohen Steuerlast für mittlere Einkommen auf dem viertletzten von 32 Plätzen. Die mittleren Einkommen schmerzt die hohe Belastung besonders. Und der Schmerz dürfte angesichts explodierender Staatsausgaben im Zuge der globalen Finanzmarktrettung noch größer werden. Zumal der Crash auch die Altersvorsorge zerlegt. Das Finanzvermögen der europäischen Haushalte ist allein im dritten Jahresviertel 2008 um 10,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr gefallen, so die Statistikbehörde Eurostat. Tendenz fallend. Besonders betroffen: die arbeitende Mittelschicht, die – wie vom Staat befohlen – einen Teil ihres sauer verdienten Geldes auf die hohe Kante legt.

Hinzu kommt die Angst vor dem Jobverlust: Die OECD erwartet, dass im kommenden Jahr mehr als fünf Millionen Deutsche arbeitslos sein werden. Seit der Reform des Arbeitslosengeldes (Hartz IV) zum Januar 2005 droht nach nur einem Jahr Arbeitslosigkeit der Absturz auf das Existenzminimum. Die Angst davor ist selbst im bei Frankfurt gelegenen Bad Homburg, einer der reichsten Städte Deutschlands, zu spüren. Hier werden bereits wöchentlich 700 Menschen mit kostenlosem Essen versorgt, berichtet Alexander Dietz, Referent bei der Evangelischen Kirche. „Viele, denen es gut ging, leben jetzt in Armut, auch hier im Hochtaunuskreis“, sagt er. „Die Krise wird dazu führen, dass mehr Leute aus der Mittelschicht arbeitslos werden und bald von Sozialleistungen leben müssen.“

US-Bürger wurden jahrelang getäuscht

Eine Ahnung von dem, was noch kommen könnte, vermitteln die USA. Deren Bürger haben nicht wie die Deutschen die Erfahrung schleichender Einbußen gemacht, mit stagnierenden Reallöhnen, gestrichenen Feiertagen, Rente mit 67 oder Praxisgebühr. Für sie bringt die Finanzkrise die abrupte Umwertung aller Werte. Jahrelang wurden die Amerikaner über ihre wirtschaftlich fragile Lage hinweggetäuscht, zum Ratenkauf und zu immer wieder neuen Hypotheken selbst auf marode Bruchbuden ermuntert. So wurden sie Opfer einer Politik, die im Namen der Selbstverantwortung ein Eigenheim für alle versprach und sich über zunehmend billiges Geld der Notenbanken freute.

Reich gemacht hat dieses System vor allem die Banken. Ihr Anteil an den US-Unternehmensgewinnen stieg von unter zehn Prozent 1980 auf mehr als 40 Prozent zum Höhepunkt des Finanzbooms. 2007 strichen Angestellte im Finanzsektor fast doppelt so viel ein wie in anderen Branchen. „Die Finanzbranche hat unsere Regierung gekapert“, sagt Simon Johnson, ehemaliger Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds: „Die Erholung wird scheitern, wenn wir nicht die Finanzoligarchie aufbrechen, die grundlegende Reformen blockiert.“ Danach sieht es nicht aus. Finanzminister Timothy Geithner etwa segnete im US-Notenbankrat die Niedrigzinspolitik von Fed-Chef Alan Greenspan ab, Obama-Berater Lawrence Summers blockierte schon 1998 neue Finanzmarktregeln.

Weiten Teilen der Finanzelite geht es noch immer prächtig. Die Mittelschicht zahlt dagegen weltweit für die Folgen der Exzesse. Sie, die sich reich und sicher wähnte, steht plötzlich nackt da; hat weder Haus noch Vermögen und schon gar keine sichere Rente.

Der soziale Abstieg kann aus heiterem Himmel kommen. So wie bei Carol. Die 35-Jährige hat mehr als drei Jahre in einer New Yorker Event-Agentur gearbeitet, davor in der Modebranche. In den besten Jahren machte die Single-Frau bis zu 90.000 Dollar pro Jahr. Sie ging aus, leistete sich Luxusurlaube auf den Bahamas, verwöhnte sich mit teuren Schuhen. 2002 kaufte sie in der Finanzmeile ein Apartment, dessen Wert schnell stieg. Ein Freund überredete sie 2005 zum Kauf einer weiteren Immobilie: in Florida und auf Kredit. Heute ist sie nur noch die Hälfte wert. 150.000 Dollar Nettovermögen haben sich binnen drei Jahren in Schulden verwandelt. Im Januar verlor Carol ihren Job, Reserven hat sie keine. Den Kredit für das Florida-Apartment bedient sie schon nicht mehr, die Zinsen für die New Yorker Wohnung zahlte sie zuletzt mit einer ihrer Kreditkarten. Wenn ich nicht schnell einen neuen Job finde“, sagt sie, „werde ich wegziehen müssen.“ So wie Carol zahlt die US-Mittelschicht für ihre Teilnahme an einem System, das steigenden Wohlstand versprach – unter der Annahme, dass sich das Geld an der Wall Street und der Wert der eigenen Immobilie von selbst vermehren würden.

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