Der Vertreter einer Versicherungsfiliale der Allianz in Frankfurt rutscht nervös auf seinem Stuhl hin und her. Auf die Frage, was er denn von den gerade eingeführten neuen Lebensversicherungsprodukten ohne Garantiezins halte, druckst der pausbackige junge Mann herum. Er schließt die Augen, pausiert. Dann fasst er Mut, sagt im Brustton der Überzeugung: „Die Zinsen sind so niedrig, dass Versicherer sich Sorgen machen, dass sie den Garantiezins nicht mehr erwirtschaften können. Trotzdem finde ich es befremdlich, dass die Allianz jetzt ein Produkt ganz ohne Garantiezins anbietet.“
Versicherer wollen raus aus ihren Zinsversprechen, die sie ihren Kunden seit Jahrzehnten geben. Denn auch sie können nicht zaubern: Die durchschnittliche Rendite von Bundesanleihen liegt derzeit bei mickrigen 1,70 Prozent. Versprochen haben sie ihren Kunden aber je nach Abschlusszeitpunkt der Versicherung 1,75, 2,25 oder gar 4,00 Prozent Ertrag pro Jahr. Leisten müssen sie den Mindestzins aber nur auf die Beiträge abzüglich der Kosten.
Am liebsten ohne
Policen mit Garantiezins von derzeit 1,75 Prozent sind zwar noch im Angebot – doch geht es nach der Assekuranz, sollen Kunden künftig Policen am liebsten ohne Mindestzins abschließen: Die Marktführer Allianz und Ergo bewerben die neuen Produkte massiv seit Anfang Juli. Beide garantieren Sparern immerhin noch den Erhalt der eingezahlten Beiträge. Mit einem „starken Sicherheitsnetz“ dank Beitragsgarantie und „zusätzlichen Renditechancen“ lockt die Allianz. Ergo verspricht „eine in Deutschland einzigartige Absicherung mit Garantie“, außerdem „Sicherheit“.
In der langen Geschichte der deutschen Lebensversicherung läuten die Angebote eine neue Ära ein: das Ende des Mindestzinses, gepaart mit dem vagen Versprechen auf höhere Renditen als bei der klassischen Police. Seit die Finanzkrise im Herbst 2008 ihre volle Wucht entfaltete, seit die Notenbanken mit Niedrigzinsen und billigem Geld Staaten am Leben halten, leiden Versicherer unter ihren Zinsversprechen. Selbst mit Anleihen von mittelprächtig beleumdeten Unternehmen lassen sich die gut drei Prozent Ertrag jährlich, die die Versicherer im Durchschnitt über alle 89 Millionen Verträge versprochen haben, nicht mehr reinholen.
Die Policen werden für Versicherer und ihre Kunden deshalb mehr und mehr zum Vabanquespiel. Das Dilemma: Versicherer müssen permanent viel Kapital an den wackligen Märkten unterbringen. Neu angelegt haben die Lebensversicherer allein im Jahr 2012 brutto knapp 130 Milliarden Euro. Insgesamt verwalten sie derzeit bereits gigantische 769 Milliarden Euro. Hinzu kommen 66 Milliarden Euro aus Verträgen, die auf Investmentfonds basieren (sogenannte Fondspolicen).
"Wir kommen aus den Zinsmärkten nicht heraus"
Je länger die Zinsen unten bleiben, desto langfristiger müssen die Anlagemanager das Geld ihrer Kunden anlegen – denn bei längerer Laufzeit gibt es einen Tick höhere Zinsen. 2008 war das Geld nur für fünf bis sechs Jahre angelegt, heute ist es schon fast auf ein Dekade fixiert. Folge: Selbst wenn die Zinsen eines Tages doch einmal steigen sollten, liegen viele sehr niedrig verzinste Papiere in den Depots. Und in langfristig renditeträchtige Aktien können die Versicherungsmanager in der klassischen Lebensversicherung kaum investieren – zu groß ist deren Kursschwankung und das Risiko, am Jahresende im Minus zu liegen. „Wir dürfen in keinem Jahr Verlust machen. Deshalb kommen wir aus den Zinsmärkten nicht heraus“, resümiert Johannes Lörper, Vorstandsmitglied der Ergo Leben.
Teufelskreis mit blumigen Versprechen
Ein Teufelskreis. Um weiter Geschäft machen zu können, locken die Assekuranzen Kunden mit blumigen Versprechen in die neuen Policen ohne Garantiezins.
Bei ihrem Werben vertuschen sie aber, dass das Risiko, ob und wie viel Rendite am Ende der Vertragslaufzeit hängen bleibt, nun plötzlich der Kunde trägt. „Versicherer versuchen mit einer wenig greifbaren Renditeaussicht die Last der Garantiezinsen zu vermeiden“, sagt Udo Traber, Honorarberater von Zeroprov aus Schkölen bei Jena. Wer die neuen Policen kauft, soll mindestens seine eingezahlten Beiträge zurückerhalten. Auf Basis dieser Summe wird auch eine Mindestrente berechnet. Diese Versprechen aber sind nur etwas wert, wenn der Kunde bis zum Ende der Vertragslaufzeit durchhält. Wer eher kündigt, verliert Geld. Genau darauf können Versicherer bauen: Im Jahr 2012 sind laut Branchenverband GDV knapp 3,5 Prozent der Verträge gekündigt worden – und das war schon der niedrigste Wert seit 1993. Hochgerechnet bis zum Ende der Laufzeit hält immer noch kaum ein Kunde seinen Vertrag durch.
Wichtige Kennziffern für Lebensversicherer
Bei der Nettoverzinsung werden sämtliche Erträge und Aufwendungen aus Kapitalanlagen berücksichtigt. In die Berechnung einbezogen sind somit auch Erträge und Verluste aus dem Abgang von Kapitalanlagen sowie die Abschreibungen auf Wertpapiere. Diese Kennzahl kann daher relativ starken Schwankungen unterworfen sein. Die Berechnung der Nettoverzinsung erfolgt nach den Empfehlungen des LV-Verbandes.
Abschlusskosten entstehen im Zusammenhang mit dem Neugeschäft. In der Regel sind die Kosten kalkulatorischer Bestandteil des Versicherungsprodukts, die der Versicherungsnehmer (zumindest teilweise) im Rahmen seiner Prämie trägt.
Diese Kostenquote beinhaltet die Kostenpositionen des Jahresabschlusses, die nicht unmittelbar dem Neugeschäft zuzuordnen sind. Hieraus lässt sich erkennen, wie hoch die Kostenbelastung in Relation zu den eingenommenen Beiträgen ist.
Der freien RfB (Rückstellung für Beitragsrückerstattung) kommt die Bedeutung einer Pufferfunktion zur Glättung der jährlichen Gewinnbeteiligung zu. Die freie RfB in Prozent der Deckungsrückstellung ist ein Indikator für die Höhe dieses „Puffers“ in Relation zur gesamten Deckungsrückstellung der Versicherten im Geschäftsjahr.
Die Zuführung zur Rückstellung für Beitragsrückerstattung (RfB in Prozent der gebuchten Bruttobeiträge und Nettoerträge aus Kapitalanlagen) gibt Aufschluss darüber, wie groß der Anteil der Erträge ist, der der Versichertengemeinschaft in Form von Überschüssen zugute kommt.
Das Wachstum eines Versicherungsunternehmens wird hier an drei Größenpositionen gemessen: Entwicklung der Beiträge (50%), Entwicklung der Kapitalanlagen (25%) und Entwicklung der Versicherungssummen (25%).
Das Storno erfasst die Verträge der kapitalbildenden Tarife (Kapital- und Rententarife), die vorzeitig - also vor Vertragsablauf - gekündigt oder beitragsfrei gestellt werden. Es lässt einen Rückschluss auf die Qualität der Beratung, der Tarife und der Vertriebswege zu.
Die modifizierte Eigenmittelquote ist ein Maßstab dafür, in welchem Umfang ein Lebensversicherer Risiken durch die Eigenmittel Eigenkapital und Schlussüberschussanteil-Fonds (SÜAF) abdecken kann. Hierfür wird eine Quote gebildet, welche die Summe dieser beiden Eigenmittel der Deckungsrückstellung gegenüberstellt.
Die Reservequote zeigt, wie groß der Anteil der so genannten Stillen Reserven in Prozent der gesamten Kapitalanlagen zum Bilanzstichtag war. Die Stillen Reserven ergeben sich im Wesentlichen aus abgeschriebenen bzw. zum Niederstwert angesetzten Buchwerten (z. B. Grundstücke, Aktien und Investmentfondsanteile) gegenüber ihren zum Stichtag ermittelten und angesetzten Marktwerten. Die Bewertungsreserve wurde erstmals im Bilanzjahrgang 1997 in den Geschäftsberichten ausgewiesen. Seit dem Bilanzjahrgang 2007 sind auch die Stillen Reserven in den zu Nennwert bilanzierten Kapitalanlagen angabepflichtig und sind entsprechend integriert. Quelle: Morgen & Morgen
Doch wer aussteigt, bekommt nur den Rückkaufswert erstattet. Je kürzer ein Vertrag läuft, desto weniger sieht der Kunde von seinem Geld wieder – denn in den ersten Jahren ziehen Versicherer Kosten für die Vertriebsprovision ab. Wer etwa bei der Allianz einen Vertrag über 30 Jahre bei einer Einzahlung von jährlich 1200 Euro abschließt, der bekommt einem Mustervertrag zufolge nach fünf Jahren hochgerechnet nur rund 4400 Euro der bereits eingezahlten 6000 Euro zurück.
Und die Allianz wird das Geld aus den Einnahmen neuer Policen auch nicht anders anlegen als die Altersvorsorge von Käufern klassischer Produkte. Allerdings betonen die Münchner, dass es teuer sei, die Garantieversprechen abzusichern. Da diese Kosten beim neuen Produkt „Perspektive“ weitgehend entfallen, schreibt die Allianz den Käufern neuer Policen für 2013 eine um 0,3 Prozentpunkte höhere Überschussbeteiligung gut als Kunden klassischer Policen. Das gemeinsame Allianz-Depot der Altersvorsorgesparer war Ende März 184 Milliarden Euro wert. Sechs Prozent davon sind in Aktien investiert – mehr als doppelt so viel, wie die restliche Branche im Durchschnitt in Aktien hält.
Nicht kündigen!
Mehr Aktien werden es bei der „Ergo Rente Garantie“: Das neue Produkt ist eine fondsgebundene Rentenversicherung. Bis zu 40 Prozent Aktien wollen die Düsseldorfer Kunden ins Depot legen. Das kann sich rentieren: Der deutsche Aktienindex etwa hat seit 1993 jährlich im Schnitt acht Prozent Rendite gebracht – inklusive Dividenden. Doch in der Vergangenheit haben die Manager im Ergo-Konzern kein glückliches Aktien-Händchen bewiesen: Die Tochter Victoria hielt zur Jahrtausendwende mehr Aktien als andere Versicherer und verkaufte sie zu spät. Victoria konnte deshalb nur weniger Überschussbeteiligung gutschreiben als Konkurrenten. So gibt selbst Lörper von Ergo zu, dass „der garantierte Rückzahlungsbetrag“ am Ende auch „geringer“ ausfallen könne als im klassischen Modell.
Marktführer Allianz rühmt sich vor allem mit niedrigen Gebühren – gemessen an 100 Euro Beitrag werde die jährliche Rendite durch die Kosten um 1,06 Prozentpunkte gemindert. Anhand dieser Rechnung erkennt der Kunde, wie hoch die Wertentwicklung seiner Police, gemessen an seinem Beitrag, tatsächlich ist (Beitragsrendite). In Euro hört es sich nicht mehr so rosig an: 30 Jahre lang zieht die Allianz von 100 Euro Monatsbeitrag durchschnittlich 16 Euro ab. Tatsächlich angelegt werden im Schnitt also 84 Euro. Ergo ist noch teurer: Die Kosten eines 30-jährigen Vertrages liegen insgesamt bei 6348,60 Euro – damit zieht der Versicherer im Schnitt 211,62 Euro von 1200 Euro Jahresbeitrag ab. Hinzu kommen noch Gebühren für die Fonds.
Mit Zins und Zinseszins verdient der Versicherer seine eigenen Kosten über die Börse wieder zurück. Nur so kann er am Ende der Vertragslaufzeit den eingezahlten Beitrag erstatten. Läuft der Vertrag 30 Jahre lang, verdient die Allianz ihre Kosten laut Hochrechnungen nach zehn Jahren zurück. Ergo braucht noch länger: Bei 1,75 Prozent unterstelltem Zins schafft sie es nach 15 Jahren. Die neuen Policen müssen Anleger dabei versteuern wie die alten. Wer sich das Kapital auf einen Schlag auszahlen lässt, versteuert die Hälfte des Wertzuwachses mit dem persönlichen Steuersatz. Der Vertrag muss wenigstens zwölf Jahre laufen, und der Kunde muss bei Auszahlung wenigstens 62 Jahre alt sein.
Wie die neue gegenüber der alten Police abschneiden könnte, zeigt Ergo anhand dreier Berechnungsmodelle (siehe Grafik). Fazit: Nur wenn die erzielbaren Renditen wieder auf Niveaus des vergangenen Jahrhunderts hochgingen, rechnete sich eine neue Police wirklich.
Lebensversicherungssparer sollen auf jeden Fall keine klassische Police kündigen, um in eine neue umzuschichten. Das kostet schon vorab sehr viel Geld. Wer etwa einen Vertrag kündigt, der noch vier Prozent Garantiezins bringt, der tut allein seinem Versicherer einen Gefallen. Denn egal, wie tief die Zinsen sinken: Was vertraglich zugesagt wurde, muss der Versicherer auch zahlen. Das Risiko niedrigerer Zinsen trägt bei hohen Garantiezinsen in Altpolicen also der Versicherer. Das immerhin ist ein echtes Pfand.