Vor gut dreißig Jahren formulierten die US-Ökonomen Gregory Mankiw und David Weil die sogenannte „Asset Meltdown“-Hypothese: Gemäß dieser Theorie werden die geburtenstarken Jahrgänge der 50er und 60er, die sogenannten „Baby-Boomer“ zwischen den Jahren 2020 und 2030 in einer ganzen Reihe von Industrieländern in den Ruhestand gehen und zur Sicherung ihres Lebensstandards ihre Vermögenswerte verkaufen. Da die nachfolgenden Generationen weniger zahlreich sind – vielen Verkäufern stehen wenige Käufer gegenüber – kommt es zu einem Überangebot auf den Kapitalmärkten und somit zu einem Preisverfall der Vermögenswerte und zu sinkenden Renditen. Soweit die Theorie.
Seither nun haben die Baby-Boomer einen Gutteil des Weges Richtung Ruhestand zurückgelegt und die von Mankiw und Weil erwartete Phase des „Entsparens“ steht kurz bevor. Wie realitätsnah ist deren Hypothese aus heutiger Sicht? Und was bedeutet das für den Leitzins?
Auch in der Rente wird gespart
Die Idee des „Asset Meltdown“ ist vielfach hinterfragt worden. Insbesondere zeigen empirische Studien, dass Sparquoten im Alter zwar deutlich zurückgehen, allerdings positiv bleiben. Wer im Ruhestand ist, spart also meist weiter.
Zur Person
Prof. Dr. Mathias Moersch, CFA, ist engagiertes Mitglied der CFA Society Germany und Dekan der Fakultät International Business an der Hochschule Heilbronn.
Dahinter steht in der Regel das Ziel, das angesparte Vermögen vererben zu können, sowie die Angst vor unvorhergesehenen und hohen medizinischen Ausgaben. Ein massiver Vermögensabbau im Alter ist also eher nicht zu erwarten. Entsprechend legen auch mehrere Studien nahe, dass ein Preisverfall eher schleichend als ruckartig stattfinden dürfte.
Weitere Faktoren könnten hier ebenfalls eine dämpfende Wirkung entfalten: Eine internationale Diversifizierung der Anlagen hilft, das demographische Risiko in Ländern mit alternden Bevölkerungen zu begrenzen. Zudem kann die Notwendigkeit im Alter auf Vermögenswerte zurückzugreifen durch mögliche Rentenreformen oder die Bereitschaft auch über das Rentenalter hinaus aktiv zu bleiben, zusätzlich reduziert werden.
Die simple These vom Preisverfall, der sich allein aus einem Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage speist, scheint also zu grobschlächtig, um als überzeugender Erklärungsansatz zu dienen. Dennoch ist der Einfluss des demographischen Wandels sowohl auf die Inflation als auch auf die Realwirtschaft und damit auch auf Kapitalmarktrenditen nicht zu unterschätzen.
Inflation durch Überalterung?
In den vergangenen Jahrzehnten herrschte ein relativ stabiler Zusammenhang zwischen Altersstruktur und Inflation. Entscheidend ist das Verhältnis der arbeitenden Bevölkerung zu jungen und alten Menschen: Je höher dieser Quotient, umso geringer ist die Inflation. Und in der Tat korreliert der deutliche Rückgang der Inflation in den vergangenen zwanzig Jahren in vielen Industrieländern mit dem Anstieg des Quotienten von aktiver zu inaktiver Bevölkerung.
Es gibt zwei mögliche Erklärungen für diese Korrelation: Zum einen die Tatsache, dass Ruheständler nach wie vor stark konsumieren, aber per Definition nicht mehr produzieren. Somit ergibt sich ein Ungleichgewicht von Güterangebot und -nachfrage, welches inflationär wirkt. Setzt sich die demographische Entwicklung weiterhin so fort, dürfte gemäß dieses Zusammenhanges die Inflation in den kommenden Jahrzehnten kräftig ansteigen. Um dem zu begegnen, müsste die Geldpolitik gegensteuern und die kurzfristigen Zinsen anheben. So oder so aber legt dieser Wirkungszusammenhang mittelfristig einen deutlichen Anstieg der Nominalzinsen nahe.
Ein alternativer Erklärungsansatz stellt die Realzinsen in den Mittelpunkt der Überlegungen. In einer alternden Bevölkerung geht die Sparquote – also das Angebot an Kapital – zurück. Gleichzeitig bleibt die Nachfrage nach Investitionen hoch, da Unternehmen bei knapper werdendem Arbeitsangebot und steigenden Löhnen vermehrt in Technologie investieren müssen. Die Nachfrage nach Kapital steigt also gegenüber dem Angebot. In der Konsequenz kommt es zu einem Anstieg der Realzinsen.
Natürlich setzen beide Ansätze voraus, dass sich die demographische Struktur nicht grundlegend wandelt. Dies wäre am ehesten denkbar durch eine qualifizierte Zuwanderung oder deutliche Anhebung des Rentenalters. Beide Möglichkeiten scheinen allerdings vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Großwetterlage wenig wahrscheinlich.
Warum sind die Zinsen dennoch niedrig?
Somit stellt sich natürlich noch die Frage, weshalb die Zinsen nach wie vor extrem niedrig sind, obwohl die demographische Entwicklung ja keinesfalls überraschend kommt. Dazu gibt es einige Erklärungsversuche.
Erstens entsprechen die Ansätze nicht dem theoretischen Mainstream. Insbesondere der Zusammenhang zwischen Demographie und Inflation passt nicht in das traditionelle Weltbild. Typischerweise wird die Diskussion um die Inflation im Kontext von kurzfristigen konjunkturellen Schwankungen geführt, welche dann entsprechende Reaktionen der Zentralbank bedingen.
Zweitens – und das hat die Finanzmarktkrise 2008/09 ziemlich deutlich gezeigt – ist es so eine Sache mit der nach Lehrbuch unterstellten rationalen Vorhersagbarkeit zukünftiger Entwicklungen, gerade wenn es seit vielen Jahren belohnt wurde, dem Zinstrend zu folgen. Immerhin fallen die langfristigen Zinsen in Deutschland nun schon seit Beginn der neunziger Jahre mehr oder weniger stetig.
Auch wenn die These des bevorstehenden „Asset Meltdown“ also in ihrer ursprünglichen Form sicherlich zu undifferenziert ist, so ist die Frage nach den Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Kapitalmärkte doch höchst relevant. Die aktuelle Forschung liefert in dem Zusammenhang interessante Argumente, warum sich der lang anhaltende Abwärtstrend bei den Zinsen bald umkehren dürfte. Denn auch wenn es für Leitzinserhöhungen angesichts der konjunkturellen Lage noch zu früh ist: Sollte sich diese Einschätzung erst einmal durchsetzen, dann manifestiert sie sich in der Realität der Märkte mit Sicherheit schnell und unordentlich, nicht etwa theoretisch geordnet und gemächlich.