Wirtschaftshistoriker Plumpe "Krisen kurz nacheinander sind historisch ohne Vorbild"

Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe über zu viel Angst vor Krisen und die Notwendigkeit von Spekulation. Ihm zufolge hat jede Krise ihr eigenes Profil - trotz der Regelmäßigkeit von Auf- und Abschwüngen.

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Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe

Herr Plumpe, in seinem gerade veröffentlichen Buch über die Tage der Finanzkrise schreibt der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück, die Welt sei am Abgrund gewesen. Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Wirtschaftskrisen. Sind Sie Anfang 2008 auch nervös geworden?

Wenn ich ganz ehrlich bin: Nein. Krisen gehören zum normalen Ablauf der wirtschaftlichen Entwicklung im Kapitalismus. Normalerweise enden sie nicht apokalyptisch.

„Sieben fette Jahre, sieben magere Jahre“, so führen Sie die Bibel an. Müssen wir uns an Krisen gewöhnen? Ist das die Erkenntnis der Historiker?

In einer größeren historischen Perspektive zeigt sich, daß Krisen wie Aufschwünge Momente einer normalen Entwicklung sind. Seit Beginn des Kapitalismus im 18. Jahrhundert gibt es eine erstaunliche Regelmäßigkeit von Auf- und Abschwüngen, wobei es sich um Schwankungen als Teil eines langfristigen Aufwärtstrends handelt. Das hat also nichts Dramatisches. Die Sonderbedingungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben diesen normalen Rhythmus indes verdeckt. Damit verbunden sind zwei schlechte Botschaften.

Wir wollen sie dennoch wissen.

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 war zum einen in der Tat katastrophal und sie hat dem Nationalsozialismus den Weg geebnet. Aber sie verdankte sich den Folgen des Weltkrieges, der zerstörten Weltwirtschaft und der politischen Konkurrenz der Staaten. Das hat wenig zu tun mit der gegenwärtigen Lage. Die Weltwirtschaftskrise eignet sich daher nur sehr bedingt als Vergleich. Zweite Botschaft: Dies gilt auch für den Wiederaufbauboom. Die Vorstellung ist ja sehr verbreitet, bei richtiger Politik ließe sich das Wirtschaftswunder wiederholen. Das ist eine Illusion.

Die Angst vor Krisen hat ihre Ursache darin, dass die letzte Krisenerfahrung so lange her ist?

In der Tat haben die gegenwärtig handelnden Politiker selbst kaum Erfahrungen mit tiefen Krisen. Da liegt es nahe, sich in der Geschichte umzusehen. Weltwirtschaftskrise und Wirtschaftswunder waren aber Ausnahmezeiten – die gegenwärtigen Krisen erinnern vielmehr an das 19. Jahrhundert.

Können wir denn aus den gewöhnlichen, konjunkturellen Krisen, die in den vergangenen Jahrhunderten auftraten, etwas lernen für heute?

Ja und nein. Es gibt keine Theorie und keine historische Erfahrung, die alle Krisen umfassen und die uns die Rezepte an die Hand geben, wie man Krisen vermeiden und immerwährendes Wachstum sichern kann. Andererseits zeigt ein Blick auf die langfristige Entwicklung, dass das Auf und Ab für die wirtschaftliche Entwicklung normal ist. Historisches Wissen kann also gelassener machen.

Was sind die Unterschiede zwischen den Krisen?

Jede hat ihr ganz eigenes Profil. Gegenwärtig ist das Krisengeschehen durch eine völlig andere Zeitstruktur geprägt. Wenn man sich den Gründerkrach von 1873 betrachtet, der in Wien ausbrach, ein halbes Jahr später in New York auftrat und wiederum später nach Berlin schwappte, dann zeigt das, dass frühere Krisen sich – entsprechend der Kommunikationsmöglichkeiten – langsamer ausbreiteten. Heute, mit Globalisierung und Computerisierung, geschieht weltweit alles geradezu simultan. Das hat eine andere Dynamik.

Und dann geht es umso schneller weiter zur nächsten Krise?

Das muss nicht sein. Dass sich Krisenerscheinungen kurz nacheinander wiederholen, ist historisch ohne Vorbild. Bei der geplanten Regulierung des Finanzsektors bekämpft  man die Ursachen der Krise, die gerade hinter uns liegt. Ob damit eine zukünftige Krise verhindert wird, ist völlig offen. Problematisch erscheint mir die hohe Staatsverschuldung, die man u.a. auf sich genommen hat, um eine Wiederholung der Krise von 1929 zu verhindern. Was daraus werden wird, ist schwer abzuschätzen.

Lautet Ihre Erkenntnis nicht: Das fliegt uns um die Ohren?

Staatsbankrotte sind jedenfalls keineswegs ausgeschlossen.

Historische Parallelen Quelle: Weslaw Smetek

Griechenland haben wir doch schon nicht über die Klinge springen lassen.

Nein, ich nehme auch an, dass Frankreich, Spanien, England oder Irland im Zweifel gerettet würden. Im übrigen: Staaten können gar nicht untergehen. Sie sind halt zahlungsunfähig. Mit allerdings gravierenden Folgen. Die deutsche Geschichte zeigt, was dann passiert. Die Staatsbankrotte führten zu einer Enteignung der Bevölkerung. Entweder durch eine offene Inflation wie 1919 bis 1923 oder durch eine versteckte Inflation wie im Zweiten Weltkrieg, die durch die Währungsreform von 1948 beendet wurde. Aus staatlicher Sicht geht es danach aber wieder weiter.

Klingt wenig verlockend.

Das ist es auch nicht. Aber es lehrt, die Dimensionen von Krisen und Zusammenbrüchen nüchtern zu beurteilen.

Ihre Ruhe möchte ich haben. Die wenigsten Bürger haben gerade zu viel Zuversicht.

Im historischen Vergleich sind heutige Wirtschaftskrisen relativ harmlos. Ich unterscheide als Historiker zwischen alten und neuen Krisen. In Europa hatten wir bis ins 19. Jahrhundert Wirtschaftskrisen, die sehr viel stärker an das erinnern, was wir heute aus der Dritten Welt kennen. Die Menschen waren fast ausschließlich mit der Beschaffung von Nahrung, Kleidung und Behausung beschäftigt; jede, in der Regel durch Witterungsschwankungen ausgelöste Erntekrise hatte in einer an der Subsistenzgrenze lebenden Welt verheerende Folgen. Hunger, Epidemien, Tod waren an der Tagesordnung. Aus Sachsen wird im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts von Kannibalismus berichtet; die Obrigkeiten setzten sogar auf das Töten von Spatzen Prämien aus. Das schlimmste Hungern und Sterben traf Mitte des 19. Jahrhunderts Irland: Dort kam es infolge von Missernten und Kartoffelfäule zu einer Drittelung der Bevölkerung. Ein Drittel ist gestorben, ein Drittel ist ausgewandert und ein Drittel ist geblieben. Derartige Krisen waren existentiell.

Und damit macht der Kapitalismus Schluss?

Der steigerte die Agrarproduktivität so weit, das wir heute mit Agrarkrise keinen Hunger mehr verbinden, sondern Überfluss! Die Agrarkrisen vor der Mitte des 19. Jahrhunderts waren auch nicht so rhythmisch, sondern hingen von der Witterung ab. Man konnte sich vor ihnen nicht wirklich schützen. Die kapitalistischen Zyklen mit ihren wiederkehrenden Krisen sind etwas ganz anderes: Sie sind in gewisser Hinsicht berechenbar und sie sind bei weitem nicht so gravierend. Vor allem aber sind sie Phänomene einer langfristig wachsenden Wirtschaft! Das Pro-Kopf-Einkommen ist in allen kapitalistischen Staaten langfristig dramatisch angestiegen. Ich will die sozialen Folgen der Krisen nicht kleinreden. Aber hiergegen hat sich seit dem späten 19. Jahrhundert der Sozialstaat entwickelt.

Alle Jahre wieder

Das nützt dem entlassenen Bandarbeiter wenig.

Das ist klar. Aber die Schlussfolgerung kann nicht sein, den kapitalistischen Strukturwandel, der sich eben über dieses konjunkturelle Auf und Ab vollzieht, aufzuhalten, nur um die gegebene Arbeitsplatzstruktur zu erhalten. Es ist eine teure Illusion zu glauben, aus sozialen Gründen den Strukturwandel behindern zu können. In der DDR hat man das mit der Folge getan, dass nach der Wiedervereinigung die Industriestruktur wie ein Kartenhaus zusammenbrach, nachdem sie bereits zuvor nur durch Subventionierung erhalten werden konnte. Wer den Kapitalismus als einen ökonomischen Prozess der permanenten Selbstzerstörung und Erneuerung begreift, wie Joseph Schumpeter das tat, wird hiervor nur warnen können: Die Schreibmaschine verdrängt den Kopierstift, der Computer die Schreibmaschine und so fort, und jedesmal gehen Arbeitsplätze unter und neue entstehen.

Und wir mittendrin.

Ja, für uns, die wir im Kapitalismus leben, bedeutet das, dass wir uns auf permanenten Wandel einstellen müssen, als Konsumenten tun wir das im übrigen ja auch sehr gerne. Entscheidend ist, dass im Zweifelsfall jene Risiken, die der Einzelne nicht bewältigen kann, kollektiv aufgefangen werden. Dafür gibt es den Sozialstaat, der mithin das notwendige Komplement zur kapitalistischen Dynamik darstellt.

Lieber die Krise zulassen und ihre Folgen mindern, statt den Versuch zu machen, sie zu verhindern?

Genau. Und die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts sind ja auch so schlecht nicht. 1857 und 1873 ließ der amerikanische Staat die jeweils durchaus tiefen Krisen regelrecht „ausbrennen“, ohne direkt einzugreifen. Der New Yorker Finanzsektor hat sich jeweils selbst reorganisiert. Das kann man mit heute nicht eins zu eins vergleichen, aber die Geschichte zeigt, dass nicht alles aus dem Ruder läuft, sollte der Staat darauf verzichten, massiv zu intervenieren.

Die jüngsten Interventionen legen dem Finanzsektor neue Regeln auf, weil er verantwortlich gemacht wird für die Finanzkrise. Auch überflüssig?

Ob der Finanzmarkt und seine Regeln für die Krise verantwortlich sind, vermag ich nicht zu beurteilen, halte es aber eher mit Karl Marx, der allein vom rhythmischen Krisengeschehen her Ursachen wie Profitgier oder individuelle Bereicherungssucht ausschloss. Die Ursache für Wirtschaftskrisen liegt wohl eher in den für den Kapitalismus typischen dezentralen Entscheidungsstrukturen, die über Preissignale koordiniert werden. Unter Konkurrenzbedingungen kommt es dann zu selbstverstärkenden Entscheidungen, da jeder versucht, auf den vielversprechenden Märkten dabei zu sein. Das führt zu einer Welle, und da die kapitalistische Unternehmung im wesentlichen kreditfinanziert funktioniert, hat dieser Prozess sui generis auch eine spekulative Seite: Ohne Börse und Finanzmärkte hätte es eine umfassende Industrialisierung nicht gegeben – und das wird auch so bleiben.

Die sogenannten Leerverkäufe helfen aber nicht, Bahnen oder Fabriken zu bauen. Banker haben sich unmoralisch verhalten, das sagt selbst der EU-Binnenkommissar.

Ja, Bankenschelte ist en vogue. Aber nochmal: Spekulation tritt in einer kreditfinanzierten Wirtschaft immer auf, wie überhaupt Spekulation, das heißt das Kalkulieren mit zukünftigem Gewinn, konstitutiv für die moderne Wirtschaft ist. Zweifellos gibt es Spekulation, die an Eisenbahnbau oder Industrieproduktion selbst gar nicht interessiert ist, sondern die Preisunterschiede an den Finanz- und Kapitalmärkten ausnutzen will. Aber selbst diese „Arbitrage“ hat ihren wirtschaftlichen Nutzen, weil sie anzeigt, was sich derzeit zu lohnen scheint und was nicht. Das heißt nicht, dass jede Spekulation korrekt ist, aber doch, dass Spekulation ein notwendiges Moment jeder modernen Wirtschaft ist.

Ah! Also sind doch Regeln nötig.

Da muss man sich im einzelnen schauen. Wie bei der Tulpenmanie in Holland im 17. Jahrhundert. Oder dem Südseeschwindel in Großbritannien um 1720. Da kann man sehen, dass es Menschen gibt, die Regeln missachten und andere betrügen. Prospektfälschungen und ungenaue Angaben zu Umsatz und Ertrag waren damals gang und gäbe. Es wurden aber auch Gesellschaften an die Börse gebracht, deren Zweck gar nicht bekannt war. Die Menschen haben damals derartige Anteilsscheine geradezu hysterisch gekauft – und sich dabei wohl auch betrügen lassen. Ähnlich war es nach 1870, als massenhaft Unternehmen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen an die Berliner Börse gebracht wurden. Derartiges Spekulationsverhalten ist selbstverständlich in keiner Weise zu tolerieren.

Die verpackten faulen Kredite waren aber legal. Niemand hat sie richtig verstanden, aber sie waren legal.

Daher verstehe ich viele Vorwürfe nicht: Zumindest hier in Deutschland haben die heute so gescholtenen Banken mit ihren Geschäften nicht gegen geltendes Recht verstoßen! Vor der Finanzkrise haben Politiker fast aller Couleur der Liberalisierung der Finanzmärkte das Wort geredet, nicht zuletzt um den Finanzplatz Frankfurt zu stärken. Zweifellos haben die Banken ihre Spielräume ausgereizt, aber eben nicht gegen Recht verstoßen. Sonst hätte es mehr Klagen gegeben.

Und Schuld sind die, die zu dumm waren, es zu begreifen.

Was heißt Schuld? Die Menschen, die diese Zertifikate gekauft haben, haben sich ebenfalls spekulativ verhalten, weil sie sich davon höhere Gewinne versprachen als von einem Sparbuch oder einer Staatsanleihe. Die Kritik an der Intransparenz der Produkte kam ja auch nicht auf, so lange alles gut lief. Da war es den Käufern egal. Erst als Verluste drohten oder eintraten, wurden Wehklagen laut.

Und welche Krise sollte man nun prophylaktisch bekämpfen?

Wenn ich das wüsste! Aktuell glaube ich nicht, dass sich das Krisengeschehen der vergangenen Jahre wiederholt. Dazu ist einfach die Erwartungshaltung insgesamt zu defensiv. Größere Aufschwünge und Spekulationswellen hatten ja neben guter Liquiditätsversorgung immer auch etwas mit großen Erwartungen zu tun. Davon sind wir wohl noch ein Stück entfernt. Und selbst wenn die Erwartungen optimistischer werden, hilft das zur Prognose nur wenig. Das Diabolische ist ja, dass positive Erwartungen in Märkte und Produkte anfangs wirtschaftliche Chance sind, die nicht zu nutzen geradezu sträflich wäre. In gewisser Hinsicht ist die Krise dann der Preis, den wir für den Aufschwung zahlen müssen. Dieser Diabolik werden wir wohl nicht entkommen.

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