Frankreich und der Erste Weltkrieg Wo der „Grande guerre“ noch Alltag ist

Als „Grande guerre“ stellt der Erste Weltkrieg in Frankreichs konfliktreicher Geschichte alles in seinen schrecklichen Schatten. Die Erinnerung beim Nachbarn ist aus deutscher Sicht überraschend allgegenwärtig.

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16.142 Gräber erinnern an die blutigen Kämpfe um Verdun. Quelle: Reuters

Paris Die meisten Touristen und viele Paris-Reisende kennen das Bild. Meist stolpern sie eher zufällig in die Zeremonie und wundern sich, was die Uniformierten da unter dem berühmten Triumphbogen um halb sieben machen.

Jeden Abend wird im Herzen der französischen Hauptstadt nach genauem Ablauf in Begleitung von Veteranen eine ewige Flamme symbolisch neu entfacht. Mit der „flamme du souvenir“ gedenkt die Grande Nation, das von Kriegen ebenso leidgeprüfte wie auch kriegerische Land, eines unbekannten Soldaten.
Die tägliche Geste am Ende der Champs-Élysées steht stellvertretend für die allgegenwärtige Erinnerung in Frankreich. Es ist vor allem der Erste Weltkrieg, trotz seines schrecklichen Nachfolgers noch immer als Grande guerre bekannt, der die historischen Gedanken vieler Franzosen bindet. Zum Centenaire einhundert Jahre nach Kriegsbeginn 1914 steht neben dem Gedenken an Leid und Verlust vor allem ein Gedanke im Zentrum: die auf allen Ebenen gelebte Aussöhnung mit dem früheren Erbfeind Deutschland.

Aus deutscher Sicht ist die zentrale Bedeutung des Ersten Weltkriegs oft überraschend. Das lässt sich etwa an kleinen Beobachtungen festmachen: Eine ältere Französin bricht beim Gespräch über den ersten Weltkrieg plötzlich, von der Erinnerung an Erzählungen der Verwandten übermannt, in Tränen aus.

Eine größere Verbindung erkennt der Historiker Arndt Weinrich vom Deutschen Historischen Institut in Paris: Für Frankreich habe der Erste Weltkrieg eine Bedeutung, "die mit der der französischen Revolution von 1789 durchaus vergleichbar ist".


Erinnerung ist reiner als an den Zweiten Weltkrieg

Den Tod des letzten französischen Kriegsteilnehmers Lazare Ponticelli am 12. März 2008 meldeten französische Tageszeitungen auf ihren Titelseiten. Die Zeremonie beim feierlichen Begräbnis übertrug des Fernsehen direkt. In Schulen sollten Lehrer das Leben Ponticellis mit den Schülern besprechen.
Weinrich sieht einen Grund für die noch immer große Präsenz darin, dass sich weite Teile des Ersten Weltkriegs in Frankreich abgespielt haben. „Es gibt hier im Gegensatz zu Deutschland deutlich sichtbare Spuren wie Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe. So etwas spielt bei der Entwicklung einer Erinnerungskultur eine Rolle“, sagt der Historiker.

Zudem hat der Schrecken auch unvorstellbare Zahlen: von den 8,1 Millionen französischen Soldaten wurden etwa 1,33 Millionen getötet. Hinzu kommen 600 000 tote Zivilisten und 4,2 Millionen Verletzte. Nach Schätzung des französischen Statistikers Edmond Michel wurden in Frankreich 222 000 Häuser, die Hälfte aller Straßen und 5600 Kilometer Schienen zerstört.

Auch der Zweite Weltkrieg hat unfassbares Leid über die Franzosen gebracht, bis hin zur Schmach eines von Deutschen besetzten Paris. Doch die Erinnerung ist nicht ganz so rein: Da war eben auch das Vichy-Regime, der mit Nazi-Deutschland paktierende Teil Frankreichs.

Weder Erster noch Zweiter Weltkrieg haben Frankreich zu einem pazifistischen Land gemacht. Durch die Geschichte der fünften Republik ziehen sich ebenso zahlreiche wie blutige Konflikte etwa in Asien oder Afrika. Auch die jüngsten Einsätze in Mali oder der Zentralafrikanischen Republik stoßen weitgehend auf Konsens im Land.


Hollande erinnert an Zusammenhalt

Weinrich sieht im Ersten Weltkrieg den „Ursprungsmythos des modernen Frankreich“. Zu Kriegsbeginn ist die nationale Einheit in Frankreich besonders groß, selbst Pazifisten und Sozialisten wie Marcel Sembat oder Jules Guesde sind in der „Regierung der heiligen Union“ gegen Deutschland eingebunden. Der Philosoph Henri Bergson bezeichnete den Krieg als "Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei". Gewerkschaften machen die Arbeiterklasse zu Bürgersoldaten.

„Niemals wird die heilige Union der Franzosen vor dem Feind zerbrechen“, proklamierte Kriegspräsident Raymond Poincaré. 100 Jahre später geht der französische Staat aus Sicht des australischen Historikers Christopher Clark feinfühlig mit dem Thema um: „Der Krieg als Trauma, Verlust, Massentod steht an erster Stelle, die alten chauvinistischen Phrasen werden nicht mehr wachgerufen.“

Im aktuell krisengeschüttelten Frankreich appelliert Präsident François Hollande zum Gedenkjahr an gemeinsame Größe: „Der Erste Weltkrieg erinnert uns daran, wie stark eine Nation sein kann, wenn sie zusammenhält.“

Auch dies soll international eingebunden werden. Zum Nationalfeiertag am 14. Juli hat Hollande alle 70 am Krieg beteiligten Nationen zur traditionellen Militärparade nach Paris eingeladen. Für die Aussöhnung mit Deutschland steht eine Begegnung am 3. August, dem Tag der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich.

Dann wollen Hollande und Bundespräsident Joachim Gauck gemeinsam am Hartmannsweilerkopf den Grundstein für ein historisches Zentrum legen. Die Bergkuppe in den elsässischen Südvogesen steht wie so viele Stätten des Ersten Weltkrieges für Kampf, Tod und Leid tausender deutscher und französischer Soldaten.

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