Die Geschichte über die umstrittenste Delikatesse unserer Zeit beginnt mit einem Missverständnis. Und Gioachino Palestro ist an diesem Morgen hinter seiner üppig beladenen Metzgertheke entschlossen, es aufzuklären.
Der Kunde, aus Mailand mit dem Auto eine Stunde herausgefahren ins eher peripher gelegene Mortara an der Grenze zwischen den norditalienischen Regionen Lombardei und Piemont, hatte eine Frage gestellt zum Unterschied zwischen der Leberpastete in Signor Palestros Theke und den berühmten französischen Foie-gras-Produkten. Da platzt es aus Palestro heraus. „Die Franzosen? Die Kunst der Gänseleber-Verarbeitung haben die Italiener erfunden.“
Das ist zwar nur insofern richtig, als dass ein gewisser Julius Cäsar die Gänsemast einst aus dem besetzten Ägypten mit ins Römische Reich brachte. Belegt aber immerhin, dass es keinesfalls ein französisches Produkt ist. „Das gehört zum italienischen Erbe“, sagt Palestro. „Und im Übrigen beherrschen die Franzosen diese Kunst überhaupt nicht, sie sind nur die besseren Vermarkter. Und Tierquäler.“
Und so befindet man sich an diesem frühwinterlichen Vormittag im Nordwesten Italiens schnell in einer der heißesten Diskussionen der Gourmetwelt: dem kulinarisch-ethischen Spannungsverhältnis rund um die Gänseleber. Zur Weihnachtszeit findet sich diese nicht nur im Foie-gras-verrückten Frankreich überall, sondern auch in deutschen Feinkostläden und der kompletten Topgastronomie.
In den Haupterzeugerländern Frankreich, Ungarn und Polen werden die Gänse wortwörtlich mit einer Art Maisbrei maschinell gestopft, damit sie sich überfressen und so eine Fettleber herausbilden, die um das Achtfache größer ist als das natürliche Organ. Diese Methode ist in fast allen anderen Ländern der Europäischen Union verboten, der Verkauf aber nicht. Tierschützer rufen daher zum Boykott auf, Spitzenköche streichen das Gericht von der Karte. Dabei ist Verzicht womöglich gar nicht nötig. Wer das Nutztier Gans streng ökonomisch betrachtet und Menschen wie Gioachino Palestro zuhört, der lernt: Es gibt eine vertretbare Form der Gänseleberproduktion.
Und die passt, obwohl jahrhundertealt, deutlich besser in die moderne, sich wieder um ethische Grundsätze und regionale Bodenhaftung sorgende Küche.
Etwas später sitzt Palestro an einem runden Tisch, umgeben von Feinkostpaketen und Weinflaschen, und erzählt einer kleinen Gruppe von Kunden, wie das nun ist mit der Gans. Gioachino ist ein Mann, dem die Freude am Leben einige Spuren ins Gesicht gefurcht hat und der mit roten Backen und Schürze täglich durch seinen Betrieb wirbelt. 1978 stieg er in das Geschäft ein und gründete den Corte della Oca, den Gänsehof. Heute ist Palestro nicht nur vielfach ausgezeichneter Feinkosthändler, sondern gilt auch als bester Gänseerzeuger Italiens. Das ist insofern nicht überraschend, als dass die gesamte Stadt sich der Gänseproduktion verschrieben hat. Kein Schaufenster ohne Plastikgans, keine Trattoria ohne Pasta mit Gänseragout.
„Viel Wasser aus den Alpen, gute Kräuter, hier hat die Gans einfach ihr natürliches Habitat“, sagt Palestro. Seit mindestens 1462 züchten sie in Mortara Gänse, die einstige jüdische Minderheit war damals auf der Suche nach koscheren Fleischprodukten. Und ihrer Methode bedienen sich die Lombarden bis heute: Füttern statt Stopfen.
Um eine Leber zu erzeugen, die mit der Stopfleber vergleichbar wäre, machen sich die Mäster ein natürliches Verhalten der Gänse zunutze. Ihre wilden Verwandten fressen sich vor dem Flug in die Überwinterungsgebiete eine natürliche Fettleber an. Palestro füttert seine 3000 Leber-Gänse jedes Jahr zu dieser Zeit mit Feigen. Die sind so nahrhaft, dass sie bei den Gänsen schön Fett ansetzen. Schränkt man dann deren Bewegung ein, entsteht eine Fettleber, aus der sich quasi alle Feinschmecker-Sehnsüchte bedienen lassen.
Tatsächlich gibt es hier und da Nischenerzeuger, die ähnlich arbeiten. In der spanischen Extremadura etwa ersetzen „Sousa und Labourdette“ Feigen durch Eicheln und stellen ein vergleichbares Produkt her.
Aufwendiger und teurer als die Stopfmast
Alle alternativen Methoden sind allerdings aufwendiger und teurer als die Stopfmast, weil sie etwa vier Wochen länger dauern. Aber auch, weil die Feigenfütterung mehr Kosten verursacht, als den Masttieren mit Druckluft Maisbrei durch ein Metallrohr in den Magen zu schießen. 180 Gramm spanische Leber kosten etwa 150 Euro, bei Palestro kostet das Kilo 140 Euro – für ein konventionelles Kilo fallen 95 Euro an.
Palestro ist, während seine Tochter hinter der Theke die Stellung hält, über seinen von einem vierkantigen Gebäude begrenzten Hof in einen länglichen, gefliesten Raum geschlendert. Bei knapp fünf Grad und schummrigem Licht sortiert und stapelt ein junger Metzger rote Kisten. Palestro beginnt, die Stapel zu sichten und die Qualität der Ware zu prüfen. In einigen Kisten lagern Keulen, in anderen Filets. In einer Ecke stehen Kisten mit Lebern. In einem Nebenraum Säcke mit Federn.
Diese Vielfalt ist ein Teil der Erklärung, warum Palestro sich die aufwendige Produktion leisten kann: Er kalkuliert die Gans ganz anders als seine polnischen und ungarischen, aber auch seine französischen Wettbewerber. Denn so eine Gans ist eigentlich der Mischkonzern unter den Nutztieren: ein Konglomerat verschiedener Profitcenter, die alle unabhängig voneinander am Markt bestehen und ihren Beitrag zum Gesamtergebnis leisten müssen.
Da wäre etwa, ganz unten in der Wertschöpfungsskala, die Landschaftspflege, für die so eine Gans gut ist. Dann gibt es das Fett, das nicht nur zum Frittieren verkauft wird, sondern in verarbeiteter Form auch in Kosmetik und Pharmazeutika steckt. Es folgen die Federn und Daunen, die je nach Qualität in die Textilwirtschaft gehen, und das Fleisch. Schließlich dann die Leber. Massenproduzenten aus Osteuropa, aber mit Abstrichen auch französische Produzenten holen aus Leber und (in Osteuropa) Daunen unter fragwürdigsten Bedingungen das finanzielle Optimum heraus und verramschen den Rest. So erklären sich Zehn-Euro-Weihnachtsgänse im Discount.
Weil die Gans mit Leber und Daunen bereits ihren Gewinn erwirtschaftet hat, kann das Fleisch quasi zum Selbstkostenpreis abgegeben werden. „Das aber geht auf Kosten von Handwerk, Nachhaltigkeit und Tierwohl“, sagt Signor Palestro. Neulich etwa hatte er Russen zu Gast. Sie wollten mit ihm einen großen Handel aufziehen. Palestro hätte mangels eigener Gänse Tiere aus dem Osten zur Verarbeitung zukaufen müssen. Hat er abgelehnt. „Das wäre industrielle Fertigung geworden“, sagt er. „So was mache ich nicht. Ich bin mit Leidenschaft Handwerker, dafür lebe und kämpfe ich.“
Und dafür findet er wieder mehr Kunden. Zwar gilt in Frankreich etwa das Stopfen des Federviehs als „nationales Kulturgut“; zwar hat in Kalifornien gerade ein Gericht das Verkaufsverbot von Stopfprodukten wieder zurückgenommen. Dennoch gibt es einen gewissen Trend zum Verzicht auf die klassische Stopfleber, wenn auch noch in der Nische. Im derzeit wohl angesagtesten Berliner Gastrokonzept, Dylon Watson-Brawns „Ernst“ im Wedding, verzichtet man auf Stopfleber. Der Dreisternekoch Thomas Bühner tut dies ebenfalls, genauso die Einsterneköche Vincent Klink aus der Stuttgarter „Wielandshöhe“ und Benjamin Gallein aus der norddeutschen „Ole Deele“. Palestro findet: Dafür gibt es auch kulinarische Gründe, nicht nur ethische.
Seine Leber etwa verliere beim Erhitzen nur ein Zehntel ihres Gewichts, gestopfte dagegen die Hälfte. Warum sich dann dennoch die Franzosen weltweit durchgesetzt haben und die wenigen italienischen Erzeuger in der Nische bleiben?
„So sind wir Italiener“, sagt Palestro. „Wir haben ein tolles Erbe und machen nichts daraus.“ Immerhin hat er sich nun mit den Aktivisten von Slow Food zusammengetan. Man will die lombardische Gänseproduktion zum kulinarischen Erbe der Menschheit aufwerten.
Der Mittag naht, Palestro hat eine Flasche Spumante entkorkt. Dazu kommen Grissini auf den Tisch und eine Art Ragout-Wurst vom Gänsefilet. „Was braucht der Mensch mehr, um glücklich zu sein?“, ruft Palestro. Stockt kurz, und sagt: „Wobei, nehmen Sie die Leber, formen Sie sie in ein Tongefäß, erwärmen Sie es leicht, schneiden Sie die Leber in Scheiben, tun Sie etwas Salz und Olivenöl dran – großartig.“