Tomi Ungerer im Interview „Tumor mit Humor“

Tomi Ungerer über sein neues Museum in Straßburg, die Last der Kreativität, Goebbels, Harry Potter, gute Kindererziehung und die Lust am Tod.

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Ungerer: Ich bin total erschöpft. Kaputt. WirtschaftsWoche: Aber Herr Ungerer! Der Tag ist noch jung, das Wetter toll. Ich kann blauen Himmel nicht ausstehen. Total langweilig. Ich bin seit 5 Uhr auf, habe schon 500 Radierungen signiert, für meine Freiburger Galerie. Wie soll ich dieses Jahr nur überstehen. Was plagt Sie? Ich weiß bald nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Es ist die reinste Panik. Ich will alle meine Unterlagen in Ordnung bringen. Mein ganzes verrücktes Gerümpel. Das kann ich meiner Familie ja nicht zumuten. Sie bekommen als erster lebender Künstler vom französischen Staat ein Museum finanziert – da darf man ein bisschen Engagement erwarten. Aber ich muss mich ja nicht nur um die Eröffnung meines Museums kümmern, in dem neben 8000 Zeichnungen, Manuskripten, Skulpturen von mir auch Wechselausstellungen anderer Zeichner zu sehen sein werden. Eine Schule soll nach mir benannt werden, ich habe eine Liste von 15 Büchern, an denen ich parallel arbeite und die schon fast fertig sind. Ich habe alle meine Röntgenbilder gesammelt, aus denen will ich Kästchen basteln, wie eine Landschaft, ein ganzes Buch. Mein Verleger hat neulich fünf Weinkisten mitgenommen, voll mit Manuskripten. Und wir haben stundenlange Gespräche über meine Zeit in New York aufgezeichnet. Daraus kann er noch viele Bücher zimmern, selbst wenn ich morgen krepiere. Ist doch toll, mit 75 Jahren noch so kreativ zu sein. Es ist eine Last, und es geht immer weiter. Die Ideen schießen mir nur so durch den Kopf, ich bin wie ein Computer – als würde jemand auf einen Knopf drücken. Meine Arbeit ist mein Treibstoff, meine Krankheit, sie wird mich immer verfolgen. Gerade habe ich ein Buch mit Collagen fertiggestellt, die sind hocherotisch, schlimm. Nicht einmal das hört auf. Ich habe zu viele Ideen, das ist wie ein permanenter Strom. Das beginnt schon mit den Sprachen: Französisch, Deutsch, Englisch – es geht von einer in die andere, manchmal vermische ich alle drei in einem Satz. Worauf führen Sie das zurück? Ich habe diese doppelte Identität in mir. Wenn ich unterwegs bin, schreibe ich alles auf, habe immer ein Notizbuch bei mir. Selbst wenn ich mich mit jemandem unterhalte, denke ich gleichzeitig an etwas anderes. Es schießt mir einfach durch den Kopf. Totale Konfusion. Neulich habe ich mich an einem Morgen hingesetzt und losgelegt. Ruck, zuck waren zehn Radierungen gemacht – ich könnte auch 100 machen. Und ich arbeite an einem Kriegerdenkmal, das ich für ein kleines Dorf im Elsass entworfen habe. Ein doppeltes Kreuz, auf einem sitzt der französische, auf dem anderen der deutsche Helm. Es ist das erste Mal, dass bei einem solchen Denkmal für uns Elsässer beide Seiten berücksichtigt werden. Wir waren ja Kanonenfutter für Deutsche und Franzosen. Das Thema lässt Sie nicht los. Wie sollte es. Das ist meine Geschichte, ich bin ein markierter Mensch. Vor 30 Jahren habe ich noch Briefe mit Todesdrohungen bekommen wegen meines Elsass-Patriotismus. Ich sitze zeitlebens zwischen zwei Stühlen: als Schriftsteller und Zeichner, als Künstler und Bauer in Irland mit 600 Schafen, als Elsässer zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Elsass und Irland, zwischen dem Guten und dem Bösen. Aber das hat auch was Gutes: Nur zwischen zwei Stühlen kann man einen Stuhlgang haben. Haben Sie zum Elsass nicht schon alles gesagt? Es gibt noch viel zu erzählen. Ich bereite gerade eine Ausstellung über die Nazizeit im Elsass vor, mit 6000 Exponaten, im Museum für Deportation im Elsässer KZ Struthof. Das meiste haben mir Menschen zugeschickt nach der Veröffentlichung meines Buches „Die Gedanken sind frei“ über meine Kindheit im Krieg, zwischen Franzosen und Nazis. Auch wenn man die Sachen eigentlich gar nicht zeigen sollte. Warum? Weil diese Propaganda einfach so gut ist. Wie bitte? Na klar. Goebbels war genial. Er hat mein Interesse an Werbung geweckt. Schlag-Wörter. Ein wunderbares deutsches Wort. Ein Wort, das schlagen kann

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