Unternehmensalltag Der Irrsinn in deutschen Firmen

„Ich arbeite in einem Irrenhaus“ – so heißt das neue Buch von Martin Wehrle. Für uns schildert der renommierte Karriereberater, welche grotesken Blüten der Irrsinn in deutschen Firmen treibt und wie man als Mitarbeiter damit umgeht.

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Der Autor: Martin Wehrle

Die Zeitbombe platzte Anfang Dezember. Zum Jahresbeginn hatte die Firmenzentrale ihrer süddeutschen Niederlassung den Etat fürs Büromaterial gekürzt – jetzt ging das Papier zur Neige. Ein Hilferuf prallte an der Zentrale ab: „Nicht der Etat hat sich nach dem Verbrauch zu richten, sondern umgekehrt!“

Die Mitarbeiter gingen auf die Papierjagd: Sie klaubten Reste aus Kopierern, plünderten die Faxgeräte und kritzelten ihre Notizen auf die Rückseite des Briefpapiers. Mitte Dezember war der letzte Briefbogen aufgebraucht. Die Firma konnte keine Rechnungen mehr schreiben, ein geschäftsunfähiges Geschäft. Die Zentrale blieb hart. Die Mitarbeiter meuterten. Am Ende sprangen die Abteilungsleiter ein und kauften Papier aus eigener Tasche.

Die meisten Firmen in Deutschland gibt es zweifach: in der Außenansicht, wie sie gerne wären, und in der Innenansicht, wie sie wirklich sind. Wie prächtige Wale durchpflügen die Unternehmen den Markt und blasen ihre Erfolgsmeldungen jedes Quartal ins Land hinaus. Getrimmt auf Gewinn, gesteuert von Vernunft, getragen von Professionalität: So wirken die Firmen von außen.

Irrsin entzieht sich dem Blick von außen

Doch im Bauch des Wals herrscht oft tiefe Finsternis: Ungelernte Führungskräfte dilettieren auf den Chefsesseln. Meetings mutieren zu Machtkämpfen. Prozesse verlaufen sich in einem Irrgarten der Sinnlosigkeit. Dieser Irrsinn entzieht sich den Blicken von außen; nur die Mitarbeiter erleben ihn täglich.

Wenn Arbeitnehmer bei mir in der Karriereberatung auspacken, bröckeln die Fassaden der deutschen Firmen, und blanker Wahnsinn kommt ans Licht. Drei Beispiele aus meinem Buch:

- Ein fleißiger Ingenieur schickt sich eine Routinearbeit von der dienstlichen auf die private Mailadresse, um sie am Wochenende zu erledigen. Am Montag wird er vom Werksschutz wie ein Schwerverbrecher abgeführt und wegen „Betriebsspionage“ entlassen – gegen den Willen seines direkten Chefs, der ihn seit Jahrzehnten als treue Seele schätzt.

- Ein norddeutscher Konzern erlässt die Regel, dass Gäste bei Meetings erst aber der vierten Stunde bewirtet werden dürfen. Ein reicher Geschäftskunde aus Arabien bringt nun selbst die Kekse mit und lädt die verhinderten Gastgeber dazu ein. Andere Investoren sind erbost und springen mit ihren Millionenaufträgen ab.

- Ein Grafik-Angestellter recherchiert im Intranet, welche neuen Mitarbeiter in seiner Firma anfangen. Dabei entdeckt er: Seine eigene Abteilung soll in zwei Monaten einen neuen Leiter bekommen. Verwundert spricht er seinen Chef an. Der wird blass wie ein Leichentuch; auf diesem Weg erfährt, dass er degradiert wurde.

Der Firmen-Irrsinn lässt grüßen. Er winkt aus den Konzernzentralen, nistet im Mittelstand, spaziert durch Familienbetriebe. Kein Wunder, dass sich laut einer Umfrage der Internet-Jobbörse StepStone jeder zweite Mitarbeiter für seine eigene Firma schämt.

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