Demografie Unternehmen buhlen um Nachwuchs

Antrittsgeschenke, Nachhilfe, Stipendien: Weil die Zahl der Schulabgänger sinkt, buhlen Unternehmen in Deutschland um Jugendliche, die früher keine Chance auf einen Ausbildungsplatz gehabt hätten.

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Janina Raedel (19) Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche

Die Hauptschule schloss sie mit Note 2 ab, die elektrotechnische Realschule mit einem Schnitt von 3,4 – mit diesen Zeugnissen hatte Janina Raedel keine Chance, eine Lehrstelle in ihrem Traumberuf Elektrotechnikerin zu bekommen. 50 Bewerbungen hatte sie geschrieben, ohne Erfolg. Sich dann lustlos auf eine Ausbildung im Einzelhandel eingelassen – „weil das ja alle Frauen machen“ – und wieder abgebrochen.

Alles andere als ein Muster-Lebenslauf – mit der Lehre in ihrer Wunschbranche klappte es, nach vierjähriger Odyssee, dennoch: Als erste Frau im Unternehmen lernt die 19-Jährige inzwischen alles über Planung, Montage, Installation, Wartung und Reparatur elektrischer und elektronischer Geräte und Anlagen – bei Jäger Direkt, einem mittelständischen Elektroproduzenten und -händler in Reichelsheim im Odenwald.

„Jeder hat ein Talent“, sagt Jäger-Direkt-Geschäftsführer Franz-Josef Fischer. „Da muss man manchmal eben etwas länger buddeln.“

Buddeln, baggern, Geduld haben – das gehört längst zu Fischers wichtigsten Fähigkeiten im Umgang mit dem Nachwuchs. Der 56-Jährige besucht regelmäßig Hauptschulen im Odenwald, einer der am dünnsten besiedelten Regionen Hessens – wo einer Umfrage zufolge etwa jeder zweite Hauptschüler auf die Frage nach seiner beruflichen Perspektive die gleiche, knappe Antwort gab: „Hartz IV.“

Rund ein Dutzend der 40 Lehrstellen in seinem Unternehmen besetzt Fischer inzwischen mit Jugendlichen, von denen in früheren Jahren kaum einer eine Chance auf einen attraktiven Ausbildungsplatz gehabt hätte. Etwa wie Michael Beeh, der nach Realschulabschluss und abgebrochener Lehre zum Fachangestellten für Bürokommunikation eineinhalb Jahre arbeitslos war. Dann Praktikum an Praktikum reihte und die Hoffnung auf einen neuen Ausbildungsplatz fast schon aufgegeben hatte. Als das Arbeitsamt bei Jäger Direkt nach einer Lehrstelle für Beeh fragte, griff Geschäftsführer Fischer zu – und bot Beeh eine Ausbildung als Elektroanlagenmonteur an.

Geeigneter Nachwuchs ist rar

Oder Sandra Patsis, die mit einem Schnitt von 3,6 die Realschule abschloss und ohne Lehrstelle Zeit in einer Bildungseinrichtung totschlug: Fischer machte sie erst zur Fachkraft für Lagerlogistik, jetzt legt die 22-Jährige eine Ausbildung zur Kauffrau für Marketingkommunikation drauf – mit guten Noten.

Dabei zählt nicht nur Leistung. Sondern auch, ob die jungen Leute grüßen und pünktlich sind, ob sie statt Slang Hochdeutsch sprechen, mit Kollegen und Vorgesetzten respektvoll umgehen. Tauchen in der Berufsschule Lücken auf, gibt’s Nachhilfe.

„Wir haben gar keine Alternative“, sagt Fischer. „Wer jetzt nicht in diese jungen Leute investiert, der wird später gar keine Mitarbeiter kriegen.“

So wie Geschäftsführer Fischer geht es derzeit vielen Betrieben zwischen Frankfurt/Main und Frankfurt/Oder, Passau und Flensburg. Ob Handwerksbude, Mittelständler oder gar Dax-Konzern – viele Unternehmen haben heute Schwierigkeiten, Lehrstellen zu besetzen und geeigneten Nachwuchs an Facharbeitern und Führungskräften zu finden. Konnten sich -Unternehmen unter Myriaden von Top-Bewerbern jahrelang die Besten mit spitzen Fingern aussuchen, gilt es nun, Kreativität zu beweisen auf der Jagd nach den Jungen. Antrittsgeschenke, Stipendien, Nachhilfe – Arbeitgeber umgarnen potenzielle Azubis wie nie. Das verwandelt den lange beschworenen „War of Talents“ mehr und mehr zu einem verzweifelten Ringen nicht um die Besten, sondern die überhaupt Brauchbaren.

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