Psychologie Warum wir doch keine Egoisten sind

Der Mensch denkt nur an sich, immer und überall. So lautet ein altes Klischee. Neue Studien revidieren jedoch das Bild des ewigen Egoisten. Demnach sind wir gar nicht so selbstsüchtig wie gedacht – weder im Job noch im Privatleben.

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Fahrrad Quelle: Edel Rodriguez

Valentin Filipenko war auf dem Weg zum Zahnarzt, als das Schicksal zuschlug. Der 59-jährige Rostocker radelte im März gerade durch einen Park, als er zwei Jungen auf einem zugefrorenen See spielen sah. Sofort forderte er sie dazu auf, an Land zu kommen. Zu spät. Sekunden später brach die dünne Eisdecke unter den Kindern zusammen.

Filipenko reagierte prompt, sprang vom Fahrrad, rannte zu den Kindern auf den Teich – und krachte selbst durch das Eis. Bis die Rettungskräfte kamen, hielt er die Jungen abwechselnd über Wasser.

Warum riskierte der Vater und Großvater für zwei fremde Jungen sein Leben?

Sicher, er handelte instinktiv und impulsiv, nicht rational. Nach den Regeln der Feuerwehr war sein Verhalten sogar absolut falsch. Mehr noch: Ginge es nach den traditionellen Erkenntnissen von Verhaltensforschern, wäre Filipenko gar nicht erst vom Fahrrad gestiegen und aufs Eis gelaufen. Dennoch tat er es.

Keine ewigen Egomanen

Jahrzehntelang vertraten Wissenschaftler die Ansicht, der Mensch sei nur an seinem eigenen Wohlergehen interessiert. Biologen argumentierten mit dem Fortpflanzungsdrang, Wirtschaftswissenschaftler verstanden den Menschen als rationales, nutzenmaximierendes Wesen. Und das war auch gut so.

Frei nach dem schottischen Ökonomen Adam Smith galt es als Allheilmittel, wenn der Staat sich so weit wie möglich aus den Angelegenheiten der Bürger heraushielt, weil eine Art unsichtbare Hand dafür sorgt, dass der Wohlstand für alle steigt. Theoretisch.

Dass dieser sogenannte Homo oeconomicus eine reine Fiktion ist, hat die Praxis längst gezeigt. Neue Erkenntnisse revidieren jedoch inzwischen auch noch das Bild des ewigen Egomanen.

Egal, wen man fragt – ob Hirnforscher, Neurologen, Sozialpsychologen oder Ökonomen –, immer mehr Wissenschaftler sind mittlerweile davon überzeugt: Der Mensch ist gar nicht das egoistische Wesen, für das man ihn so lange gehalten hat. Stattdessen beweisen Umfragen, Studien und Experimente: Wir sind mehrheitlich dazu bereit, auf unsere Mitmenschen und Kollegen Rücksicht zu nehmen, ihnen Unterstützung anzubieten und Mithilfe zu leisten.

Oder kurz: Geben ist tatsächlich seliger als nehmen.

Selbstlosigkeit hat Konjunktur

Zu den Vertretern dieser neuen Denkrichtung gehören auch Richard David Precht und Stefan Klein. Die beiden Sachbuchautoren gehören zu den erfolgreichsten und populärsten Schriftstellern des Landes. Erst vor wenigen Wochen haben beide, der Philosoph Precht und der Physiker Klein, jeweils ein neues Buch auf den Markt gebracht. Und das nicht nur zur selben Zeit, sondern auch zum selben Thema: Egoismus.

So unterschiedlich die Herangehensweise der Bestsellerautoren ist, so ähnlich ist doch ihr Fazit: „Den Selbstlosen gehört die Zukunft“, resümiert Klein. „Von Natur aus sind wir eher auf Kooperation als auf Konfrontation angelegt“, schreibt wiederum Precht.

Zufall? Keineswegs. Eher war es Kalkül: Selbstlosigkeit hat Konjunktur.

Gleich eine ganze Reihe von Experimenten nährt den Verdacht, dass die bisherigen Annahmen, der Mensch sei von Kindesbeinen an hauptsächlich am eigenen Wohl interessiert, irrig sind. Einer dieser Versuche fand vor einigen Jahren am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig statt.

Die beiden Wissenschaftler Felix Warneken und Michael Tomasello ließen in Experimenten 18 Monate alte Babys dabei zuschauen, wie ein für sie fremder erwachsener Mann vergeblich versuchte, eine Schranktür zu öffnen – denn in seinen Händen hielt er einen Stapel Bücher.

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