Medikamentenentwicklung Mini-Mensch in Chip-Format

Tierversuche können nicht gut genug vorhersagen, wie Menschen auf ein Medikament reagieren. Doch Menschenversuche sind heikel und teuer. Es sei denn, man hat alle menschlichen Organe in Miniaturversion auf einem Chip.

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„Human on a Chip“: Organ-Chips sollen die Medikamentenentwicklung sicherer und produktiver machen. Quelle: Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering at Harvard University

Cambridge Einatmen, ausatmen, einatmen... Und zwischendurch klickt es rhythmisch. Was hier am Wyss Institute der Harvard University in Cambridge atmet ist weder ein Tier noch ein Mensch sondern die Miniatur-Version einer Lunge, einer „Lunge auf dem Chip“. Klickende Vakuumpumpen simulieren Atembewegungen und dehnen Bronchien- und Blutgefäßzellen, die in winzigen Tunneln eines daumengroßen Silikonchips liegen – ganz ähnlich wie in den Lungenbläschen des Originalorgans.

Ob Lunge, Leber, Niere, Muskel, Haut, Darm – weltweit versuchen Forscher derzeit, die Organe des Menschen zu imitieren und zu miniaturisieren. Doch es geht nicht um den Ersatz kranker Organe. Mit Hilfe der Mini-Organe sollen die Lebensfunktionen des menschlichen Organismus im Labor nachempfunden werden. Dafür verbinden die Forscher sogar schon mehrere Organe auf einem Chip, und bereits 2017 soll der Zusammenschluss von zehn Organen eine Miniaturversion des Menschen, den „human on a chip“, ermöglichen. 

Eine laborfähige Version des Menschen ist dringend nötig. Bislang sind Medikamentenentwickler auf Tierversuche angewiesen, um Wirkung und Nebenwirkung neuer Substanzen erahnen zu können, bevor sie am Menschen getestet werden. Aber Mäuse sind keine Menschen, und viele Proteine, die Medikamentenwirkstoffe transportieren oder verändern, kommen in Tieren gar nicht vor. Dadurch treffen die Tests häufiger falsche Aussagen über Nebenwirkungen und Wirkungen als richtige. Folge ist: Von zehn Medikamentenkandidaten, die laut Tierversuch wirken sollten, scheitern in den klinischen Tests neun.

Da jede einzelne Studie an Menschen hunderte von Millionen Euro kosten kann, summieren sich die Kosten pro erfolgreich zugelassenem Medikament mittlerweile auf schätzungsweise 1,1 Milliarden Dollar – vor allem weil die zahlreichen Fehlentwicklungen zu Buche schlagen. Händeringend suchen Medikamentenentwickler deshalb nach neuen Methoden, mit denen bessere Vorhersagen möglich sind als mit Tierversuchen oder einfachen Zellkulturen. Seit 2010 die von Donald Ingber, dem Gründer, Direktor und Chef-Forscher des Wyss-Instituts, entwickelte Minitatur-Lunge seine ersten künstlichen Atemzüge tat, hoffen Pharmafirmen, Zulassungsbehörden und Forscher gleichermaßen auf die Organ-Chips, um die Medikamentenentwicklung nicht nur billiger, sicherer und produktiver machen zu können. 


Stretching wie im Körper

Wie groß das Interesse an Organ-Chips ist, zeigt eine bisher noch nie dagewesene, ungewöhnliche Forschungskooperation zwischen den Nationalen Gesundheitsforschungsinstituten NIH, der Medikamentenzulassungsbehörde FDA und der Defense Advanced Research Projects Agency DARPA, die im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums den technologischen Fortschritt der USA sichern soll. Jeweils 70 Millionen Dollar steuern Darpa und NIH bei und finanzieren damit rund 20 Forschungsgruppen im ganzen Land, die Organ-Imitate chipfähig machen sollen, darunter auch Ingbers Wyss-Institut.

Darpa erhofft sich Testsysteme, mit denen beispielsweise Biowaffen frühzeitig erkannt aber auch vorbeugend Medikamente und Impfstoffe entwickelt werden können. Aber der wohl ungewöhnlichste Partner des Forschungsprogramms ist die FDA, die von der Grundlagenforschung eigentlich so weit entfernt ist wie ihr Hauptquartier in den Hügeln nördlich von Washington vom nächsten U-Bahn-Anschluss. „Patienten, die Pharmaindustrie, wir alle sind frustriert, dass wir so viel medizinisches Wissen anhäufen, es aber noch kaum in medizinischen Fortschritt umsetzen konnten“, sagt FDA-Forschungschef Jesse Goodman und hofft, dass die frühe Zusammenarbeit mit Firmen und Grundlagenforschern zu Organ-Chips führt, die menschlichen Organen ausreichend ähneln und so die Produktivität der Medikamentenentwicklung verbessern können. 

Stretching wie im Körper

Ingbers Lungen-Chip, ein flaches, durchsichtiges Plastik-Scheibchen, erinnert auf den ersten Blick nicht im Entferntesten an die baumartig verzweigten Original-Bronchien im Menschen. Und doch ist alles da, was die Funktion einer Lunge ausmacht: Zwei nähnadel-dünne Kanäle durchziehen den Chip, die durch eine nur ein paar Hundertstel Millimeter dicke poröse Membran voneinander getrennt sind, so dass Luft aus dem einen Kanal ins blutähnliche Medium im anderen Kanal diffundieren kann. Der Luftkanal ist von Zellen besiedelt, wie sie auch die Lungenbläschen auskleiden. Der den Blut-Ersatz führende Kanal ist von gefäßbildenden Zellen aus Arterien und Venen besiedelt.


Als nächstes kommen Muskelzellen

Die Atembewegung simulieren zwei Vakuum-Kanäle links und recht von den zellführenden Kanälen, die dafür sorgen, dass Luft und Blutersatz rhythmisch ein- und ausströmen – wie im Original. Das ist keine effektheischende Spielerei, denn ohne das atembedingte Stretching der Zellen verhalten sich zum Beispiel Luftschadstoffe nicht wie in einer echten Lunge. Erst mit Hilfe der Atembewegungen konnte Ingber beobachten, dass winzige, giftige Partikel aus der Luft durch die Zellschichten wandern und im Blut landen. Mit einfachen, eindimensionalen Zellkulturen hätte man diesen Effekt nie erreicht – und die Gefahr durch die Partikel falsch eingeschätzt. Wenn Ingber einen bestimmten Typ Immunzellen in das System integriert, kann er auch eine Entzündungsreaktionen, wie sie bei Asthma und anderen Lungenerkrankungen auftreten, simulieren.

Als nächstes bauen die Wyss-Forscher Muskelzellen in das System ein – auf Anfrage der US-Pharmafirma Merck, die Medikamente gegen das krampfartige Zusammenziehen der Bronchien bei Asthmaanfällen lindern sollen. „Wir können die Komplexität gezielt erhöhen, bis wir die gewünschte Funktion nachstellen können“, sagt Geraldine Hamilton, die das Organ-Chip-Programm leitet und vorher unter anderem für die britischen Pharmakonzerne GlaxoSmithKline und Astra Zeneca gearbeitet hat.

Die Organe zunächst so weit wie möglich zu simplifizieren und dann Stück für Stück, Zell-Komponente für Zell-Komponente, wieder aufzubauen, ermögliche es Kontrolle über das System zu behalten, so Ingber. Denn mit jedem zusätzlichen Zelltyp erhöht sich zwar die Ähnlichkeit zum Original aber eben auch die Komplexität, die jedoch für viele Fragestellungen gar nicht nötig ist. So lässt sich schon mit der vergleichsweise plumpen Nachbildung der Lunge aus Bronchial-, Blutgefäß- und bestimmten Immunzellen jenes pfeifend rasselnde Geräusch erhalten, das Patienten mit Asthma oder Lungenentzündung solche Probleme bereitet. „Das hört sich an wie damals im Medizinstudium, als wir dieses Geräusch erkennen sollten“, sagt Ingber. Nun kann er das Geräusch nicht nur nachahmen, sondern, da die Chips durchsichtig sind, live im Mikroskop beobachten, wie es entsteht – Zellen und Flüssigkeit, die aus dem entzündeten Lungenepithel in die Atemwege geraten. Weder mit einer lebenden Maus noch mit der Nachbildung einer kompletten Lunge wäre das möglich gewesen. 


Noch sind viele Tests nötig

An 14 verschiedenen Organ-Chips arbeitet Ingbers Team inzwischen. Denn das „Tissue for Drug Screening“-Programm sieht vor, dass bis 2017 ein Chip entwickelt wird, auf dem zehn Organ-Imitate miteinander verbunden sind. Die Hoffnung ist, irgendwann ein neues Aerosol-Medikament auf ein Lungenimitat sprühen und verfolgen zu können, wie es ins Kunstblut gerät, in den Leberzellen des Chips zu Abbauprodukten verstoffwechselt wird, die dann zum Nieren-Imitat transportiert und ausgeschieden werden. Der Weg eines Medikaments durch einen gläsernen Imitat-Menschen. Zwischengeschaltete Organ-Chips, die zum Beispiel Hirn- oder Bauchspeicheldrüsenzellen beherbergen, können dann Alarm schlagen, wenn ein Abbauprodukt giftig auf Nerven- oder andere Zelltypen wirkt. 

Wie gut die Mini-Mensch-Chips Pate für das Original stehen können, wird wohl erst nach vielen Tests feststehen. Den Lungen-Chip testeten Ingber und Hamilton beispielsweise mit einem Krebs-Medikament namens Interleukin-2. Eine der bekannten Nebenwirkungen dieses Wirkstoffs ist, dass sich Flüssigkeit in den Lungen ansammelt, ein sogenanntes Lungenödem. „Wir haben exakt die gleiche Reaktion bekommen, bei der exakt gleichen Medikamentendosis im exakt gleichen Zeitrahmen“, sagt Ingber. „Und als wir dann ein neues Medikament dazugaben, dass GlaxoSmithKline gerade gegen Lungenödeme an Hunden und Kaninchen testet, bekamen wir die gleiche Reaktion, eine Hemmung des Ödems.“ 

„Es sind noch eine ganze Reihe technischer Probleme zu lösen, bevor man Multi-Organ-Chips einsetzen kann“, sagt Thomas Jones, Leiter der Toxikologie und Pathology-Abteilung von Eli Lilly. „Aber ich bin sicher, dass sie die Medikamentenentwicklung verändern werden.“

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