Ägypten Geknebelte Gotteskrieger

Mubaraks Rückzug auf Raten hat begonnen, der Westen zittert vor einer Machtergreifung der Muslimbrüder: Noch halten sich die Islamisten mit radikalen Parolen zurück, um keine Angst zu schüren - und verhandeln nun sogar mit dem Regime.

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Protestwelle gegen Mubarak: Quelle: dapd

Offenbar hat der Diktator den längeren Atem: Die islamistischen Muslimbrüder wollen laut eigenen Angaben nun doch mit der Mubarak-Regierung verhandeln. Bislang hatte die Bewegung wie auch Mohamed El-Baradei gefordert, Mubarak müsse sofort zurücktreten. Der Kurswechsel kommt nicht von ungefähr: Führende Unternehmer und die alte Machtelite wollen einen grundlegenden Systemwechsel offenbar verhindern. Sie haben sich zu einem "Rat der Weisen" zusammengeschlossen und verhandeln mit Vizepräsident Suleiman über eine Übergangsregierung - an der Mubarak weiter beteiligt bleibt.

Ihr Plan: Mubarak bleibt formal im Amt, geht aber auf einen längeren Kururlaub und überträgt in dieser Zeit die Vollmachten auf seinen Vize Suleiman. Der bisherige Geheimdienstchef arbeitet dann zusammen mit dem Rat eine Verfassungsreform aus, die mehr Parteien zulässt und die Amtszeit eines neuen Staatschefs begrenzt. Auch der Westen scheint hinter diesem Plan zu stehen: Sowohl Bundeskanzlerin Merkel als auch US-Außenministerin Clinton warnten am Samstag auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor überstürztem Wandel in Ägypten.

Das setzt auch die Muslimbrüder unter Zugzwang. Denn wenn sie noch eine Chance haben wollen, an die Macht zu kommen, muss es echte Verfassungsreformen geben - unter einem Übergangspräsidenten Suleiman ist das fraglich. Diaa Raschwan, ein bekannter ägyptischer Islam-Experte, vermutet, die Muslimbruderschaft werde jetzt einen Gang zulegen, um die Situation zu ihren Gunsten auszunutzen.

"Sie sind eine stark organisierte Gruppe und wollen schon sehr lange mehr Macht", sagte er. "Zurzeit sind sie in höchster Alarmbereitschaft und mobilisieren all ihre Kräfte. Sie wären auch dumm, wenn sie es nicht täten." Raschwans Worte sind aber mit Vorsicht zu genießen: Er ist Mitglied des "Rats der Weisen", der auf eine Zusammenarbeit mit dem alten Regime drängt - und damit direkter politischer Konkurrent der Muslimbrüder.

Muslimbrüder vermeiden islamistische Parolen

Auffällig ist in diesem historischen Moment jedenfalls eins: Die Muslimbrüder versuchen entgegen ihrer Ideologie panisch, jeden Bezug zu islamistischen Symbolen und Parolen zu vermeiden - offenbar um keinerlei Angst vor ihrer Machtergreifung zu schüren. Wie am vergangenen Freitag: Für die islamistische Muslimbruderschaft sei der Volksaufstand in Kairo keine "islamische Revolution" - wie Irans Revolutionsführer Ali Chamenei behauptet hatte - sondern "eine Revolution des Ägyptischen Volkes, an der Muslime und Christen aller religiösen Strömungen und politischen Überzeugungen beteiligt sind", ließ die Organisation verbreiten.

Gekreuzte Säbel, der Koran und der Leitspruch "Der Islam ist die Lösung" sind Bestandteil ihres Wappens, doch nun stapeln die "Ikhwan" - arabisch für Brüder - tief: "Wir sind weder auf Macht noch Herrschaft aus und haben keinerlei Absicht Mitglieder der Bruderschaft für die Präsidentschaft zu nominieren", schreiben sie auf ihrer Website. Auch sonst finden sich dort jede Menge Mitteilungen, mit denen sich die Organisation bewusst gemäßigt gibt.

Es ist, als hätten sich die Ikhwan einen Maulkorb verpasst - oder gleich ganz ein Sprechverbot auferlegt: Amr Said, ein 41-jähriger Chemiker und Muslimbruder, sagte der Nachrichtenagentur AP am Freitagmorgen auf dem Tahrir-Platz, die Anweisung sei, "im Moment keine allzu sichtbare Rolle einzunehmen" und sich all den anderen Gruppen, auch den linken und liberalen, anzuschließen. "Wir verzichten auf unsere typischen Bruderschaft-Gesänge - und wenn es einer trotzdem macht, dann sagen wir ihm schnell, dass er ruhig sein soll."

Kein Wunder: Die Organisation braucht nicht laut zu werden, um sich ihrer Stärke bewusst zu sein: Beobachter rechnen bei freien Wahlen mit etwa 20 bis 40 Prozent der Stimmen für die Bruderschaft - aber keiner Mehrheit. Anders als befürchtet werden die Muslimbrüder also nicht gänzlich die Macht in Kairo übernehmen, wohl aber eine anerkannte Rolle in der Politik spielen. "Uns ist völlig klar: Wir sind dabei, aber nur so weit es die ägyptische Nation erfordert", sagte ein Sprecher der Muslimbrüder am Samstag.

Öffentlich tritt die Führung der Muslimbruderschaft aber weiterhin kaum in Erscheinung. Die anfangs geübte Zurückhaltung bei den Protesten gab die Organisation dann in den vergangenen Tagen aber auf und nahm zunehmend eine aktive Rolle ein - obwohl die treibende Kraft hinter den Demonstrationen eigentlich eher weltlich orientierte junge Leute sind.

Wie stark die Muslimbrüder sind, zeigte sich aber spätestens am Mittwoch und Donnerstag, als sie die friedlichen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz gegen Mubaraks bezahlte Schläger verteidigten. Gut erkennbar an ihren kurz geschorenen Bärten standen sie an vorderster Front. Oft beteten sie: "Sieg oder Märtyrertod". Dann stürzten sie sich in die Schlägerei, bewaffnet mit Steinen, Stöcken und Brandsätzen. Ihr Schlachtruf: "Gott ist groß!"

Auch weibliche Anhängerinnen der Muslimbrüder, erkennbar an den Gesichtsschleiern, die nur die Augen unverdeckt lassen, wurden bei den Protesten aktiv. Gemeinsam mit den bärtigen Muslimbrüdern filzten sie an den Zugängen des Tahrir-Platzes Demonstranten und überprüften deren Pässe.

Dennoch betrachten die jungen, säkularen Demonstranten, die die Proteste angezettelt haben, die Muslimbrüder mit Argwohn. Viele geben zu bedenken, dass ihre Macht und die Unterstützung, die sie in einem demokratischen System hätten, überschätzt werde. "Die Muslimbruderschaft wirkt groß in einem Staat wie unserem, wo praktisch nur eine Partei regiert", sagte Fathi Farid, ein 23-jähriger Blogger mit Pferdeschwanz.

Auch Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, glaubt nicht an die Allmacht der Islamisten: "Wie stark diese Gruppen wirklich sind, wird sich erst zeigen, wenn Parteigründungen erlaubt und auch säkuläre Alternativen verfügbar sind", schreibt Perthes in einem Essay für das Handelsblatt. Wie radikal die Muslimbruderschaft sich nach Mubaraks Sturz verhalten wird, ist zudem schwer abzusehen. Klar ist aber, dass westliche Horrorszenarien von einer zweiten islamischen Revolution wie nach dem Sturz des Schah 1979 übertrieben sind. Dennoch: Aus US-Kreisen hieß es, man wolle einen stabilen Übergang zur Demokratie, damit nicht eine bestimmte Gruppe ihre Ideologie durchsetzen könne.

Die 1928 gegründete und 1954 verbotene Muslimbruderschaft ist erklärtermaßen der Erzfeind des Mubarak-Regime - umso mehr verwundert es, dass sie nun mit ex-Geheimdienstchef Suleiman verhandeln will. Sie ist weit weniger radikal als die afghanischen Taliban oder auch die wahhabiten Extremisten in Saudi-Arabien. Häufig wird sie von dem Terrornetzwerk Al Kaida oder anderen Dschihadisten dafür kritisiert, dass sie an Wahlen teilnimmt.

Heute gibt es unter den Glaubensbrüdern verschiedene Strömungen: Einige halten sich von der Politik völlig fern und wollen nur eine konservativere, frommere Gesellschaft, ohne sich politisch dafür zu engagieren - eine Art Gegenentwurf zur westlichen, freizügigen Gesellschaft. Andere wollen eine islamisch rückgebundene Politik und beteiligen sich dafür an Wahlen. Sie sind eher als Protestbewegung gegen Armut, Arbeitslosigkeit und andere soziale Misstände in Ägypten zu sehen. Ihr Vorbild ist die AKP-Partei des türkischen Ministerpräsidenten Recep Erdogan.

Ein kleiner Teil will weiterhin den islamischen Staat und ist dafür auch bereit, Gewalt einzusetzen. Die Organisation hat der Gewalt aber schon vor Jahren abgeschworen. Die militante, offene Rebellion ist vor allem eine Folge der jahrzehntelangen politischen Unterdrückung und Entmündigung im Mubarak-Regime.

Einigen können sich alle drei Fraktionen auf einen gemeinsamen Schlachtruf: "Der Islam ist die Lösung". Doch da hört die Gemeinsamkeit auch schon wieder auf. Tariq Ramadan, Enkel von Hassan al-Banna, dem Gründer der Muslimbrüder, bringt diese Vielfalt im Handelsblatt-Kommentar auf den Punkt: "Alles zwischen dem "saudischen" und dem "türkischen" Flügel ist möglich." Es gibt aber viele Gründe, warum sich selbst die Islamisten nach einem Sturz Mubaraks pragmatisch und gemässigt verhalten werden.

"Ihre Ziele sind vor allem innenpolitisch: Mehr Wirtschaftswachstum, mehr Jobs, mehr Verteilungsgerechtigkeit", sagt Stephan-Roll, Ägypten-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Außerdem bräuchten Sie den Westen, um sie umzusetzen: "Einen Gottesstaat am Nil wird es nicht geben", kritisiert Roll daher die Befürchtungen des Westens im Interview mit Handelsblatt Online.

Und selbst der weitverbreitete Hass auf Israel dürfte sich bei einer Machtbeteiligung nicht direkt Bahn brechen. Einerseits lehnen die Muslimbrüder den Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel ab und unterstützen den bewaffneten Widerstand gegen den Nachbarstaat. Andererseits wollen sie den Vertrag auch nicht unterlaufen: "Wir leben nicht im Land der Träume", antwortete der Ikhwan-Sprecher Mursi auf die Frage, ob die Muslimbrüder den Friedensvertrag aufheben würden, wenn sie an die Macht käme.

Am Ende wird das Verhalten der Führungsriege entscheiden, ob es einen Gottesstaat in Kairo gibt. Angeführt wird die Bruderschaft seit 2010 von dem 66-jährigen Mohamed Badie. Er hat bisher nicht gesagt, ob er bei Präsidentschaftswahlen kandidieren will, hätte aber wie andere wichtige Spieler im ägyptischen Machtpoker gute Chancen, Mubarak zu beerben.

Badie ist Professor der Tiermedizin und ein alter Kämpfer der Bewegung. Er hat über zehn Jahre im Gefängnis verbracht: 1965 wurde er von einem Militärtribunal verurteilt - gemeinsam mit Sayyid Qutb, dem Märtyrer und radikalen Vordenker der Bruderschaft und aller islamistischen Terroristen.

In Badie vereint sich also sowohl das Potential für Vernunft, wie auch für Radikalismus - so wie in der gesamten Muslimbruderschaft. mit Material von AP

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