Bildung Privatschulen: Der neue Klassen-Kampf

Die Privatschulen boomen. Wer es sich leisten kann, flieht aus dem staatlichen System. Das Ideal der Chancengleichheit ist bedroht. Was sich ändern muss, damit alle Kinder eine Zukunft haben.

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Die Privatschulen boomen. Wer es sich leisten kann, flieht aus dem staatlichen System, dpa

Früh morgens, wenn die Nebelschwaden über dem Heiligen See in Potsdam hängen und die Jogger ihre Runden drehen, saust ein weißer Minibus mit verdunkelten Scheiben über das Kopfsteinpflaster. Aus herrschaftlichen Altbauten entlang der Schwanenallee und der Seestraße springen Jungen und Mädchen mit Schulranzen herbei. Rein in den Bus, Tür zu – nur keine Zeit verlieren. Paparazzi könnten am Seeufer auf Beute lauern, die Teleobjektive im Anschlag. Denn die Kinder sind Söhne und Töchter von Fernsehstars, Managern, Diplomaten oder Spitzenanwälten. Mit der Fahrt hinter getöntem Glas beginnt für sie ein neuer Schultag an der privaten Berlin-Brandenburg International School in Kleinmachnow. Es wird ein schöner, unbeschwerter Tag werden. Engagierte Lehrer treffen auf wissbegierige Kinder. Die Klassen sind mit höchstens 18 Schülern paradiesisch klein, der großzügige Campus wird gerade für 14 Millionen Euro umgebaut. Ein Gefühl von Zukunft, von Aufbruch liegt über dem von Wäldern umsäumten Areal im Südwesten von Berlin. Die 570 Schüler aus 40 Ländern genießen vom Kindergartenalter bis zur Hochschulreife täglich von 8 bis 18 Uhr die Aufmerksamkeit pädagogischer Profis. Auf Englisch, versteht sich. Theaterspielen ist ein Pflichtfach, die Zeugnisse sind zehn Seiten lange Essays, Hausaufgabenhelfer und der persönliche Coach für Lebenskrisen stehen bereit. Wer hier zur Schule geht, legt das Fundament für eine internationale Karriere; wer hier abschließt, profitiert noch Jahrzehnte später im Beruf von wertvollen Alumni-Kontakten. Bis zu 13.100 Euro pro Jahr kostet ein Schuljahr an der exklusiven Bildungsstätte. Hinzu kommen 3000 Euro Aufnahmegebühr und nochmal 1100 Euro extra pro Jahr für den Shuttle-Service. „Wenn Eltern bereit sind, so viel Geld auszugeben“, stichelt Direktor Thomas Schädler, „sagt das viel über staatliche Schulen.“ Man muss nur von Kleinmachnow aus 20 Autominuten weiter nordöstlich in den Berliner Bezirk Neukölln fahren, um zu wissen, was Schädler meint. Dort, wo die Rütli-Schule Schlagzeilen machte, herrscht kein Zukunftsgefühl, dort muss zuallererst die Gegenwart überstanden werden. Im vergangenen Schuljahr gab es in Neukölln 136 Fälle von körperlicher Gewalt. Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky will deshalb privates Wachpersonal an Neuköllner Schulen einsetzen: „Wir können den Eltern sonst den Schutz und die Sicherheit ihrer Kinder nicht mehr garantieren.“ Mit jeder Horrormeldung aus staatlichen Klassenzimmern schwindet das Vertrauen in das deutsche Schulsystem. Im Jahr sieben nach Pisa hat sich in der Republik das Bild von aggressiven Kindern und überforderten Lehrern festgesetzt, von stupidem Unterricht in maroden Gebäuden, von planwirtschaftlicher Mangelverwaltung durch bornierte Bürokraten. Wer es sich leisten kann, flüchtet in die heile Welt der Privatschulen. Das schulische Quasi-Monopol des Staates beginnt zu bröckeln. Im Schnitt öffnet in Deutschland eine Privatschule pro Woche ihre Pforten. Seit 1992 ist die Zahl der Privatschüler um 43 Prozentpunkte gestiegen, im vergangenen Jahr verbuchten die Privaten ein Plus von 35.000 Schülern.

Allein in Nordrhein-Westfalen empfangen in dieser Woche zum Start des neuen Schuljahres zwölf neue Schulen in freier Trägerschaft die ersten Jahrgänge. Noch imposantere Zahlen kommen aus Brandenburg: In der Landeshauptstadt Potsdam besuchen schon jetzt 17 Prozent der Kinder eine Privatschule. Deutschlandweit sind es annähernd sieben Prozent, knapp 650 000 Schüler. Beinahe jede Privatschule muss Kinder ablehnen. „Die Nachfrage“, sagt Jörg Schulz, Schulexperte der Evangelischen Kirche, „ist so groß, dass wir mit dem Öffnen neuer Schulen gar nicht mehr nachkommen.“ Obwohl es auch hervorragende staatliche Schulen gibt, sind Eltern mehr denn je bereit, für die private Bildung ihrer Kinder zu zahlen – im Schnitt 150 Euro pro Monat und Kind. Die Spanne reicht von ein paar Euro im Monat für die konfessionelle Schule vor Ort, 140 Euro monatlich für die Waldorfschule bis zu jährlich 30.000 Euro für Bildungsburgen wie Schloss Salem. Noch ist in Deutschland der Anteil der Privatschulen im internationalen Vergleich gering. Doch wohin steuert das System, wenn die Privaten ihren Siegeszug fortsetzen? Zerfällt das ohnehin als extrem ungerecht geltende deutsche Bildungswesen in Arm und Reich? Verhindert das System durch soziale Selektion künftig noch stärker als bisher den sozialen Aufstieg von Arbeiter- und Migrantenkindern? Ist also in Gefahr, was der liberale Moralphilosoph John Rawls als Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaft einforderte: dass jeder die Chance zum Aufstieg haben muss und Ungleichheit dann nicht mehr akzeptabel ist, wenn sie das verhindert? Oder – und das wäre die gute Nachricht – stachelt der Wettbewerb mit den privaten Schulen um immer weniger Kinder die staatlichen Schulen zu besserer Leistung an? Wird unser Schulsystem dadurch insgesamt besser? Schon jetzt ist der Druck auf die staatlichen Schulen enorm. Eifrige Eltern lassen sich allerhand Tricks einfallen, um das System zu überlisten. Mittdreißiger entdecken ihren Glauben und schließen sich spätberufen einer Kirche an, damit der Nachwuchs bessere Chancen an der konfessionellen Privatschule hat. Andere schicken ihr Kindergartenkind zum Fagott- oder Trompetenunterricht, weil diese Positionen im Schulorchester schwach besetzt sind und so die Aufnahmechancen steigen.

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