Große Ökonomen und ihre Ideen Schumpeter und die Zivilisationsmaschine

Joseph Schumpeter Quelle: Harvard University Archives, HUGBS 276.90P (3).

Joseph Schumpeter hat das Grundgesetz des Kapitalismus erforscht: ewiger Wandel durch „schöpferische Zerstörung“. Keiner sah so klar wie er, dass in seinen Krisen nicht nur der Kapitalismus selbst auf dem Spiel steht, sondern auch die Atmosphäre des Fortschritts.

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Die Bedeutung einer Legende besteht nicht darin, dass sie die ganze Wahrheit erzählt, sondern darin, dass sie einen Sachverhalt bis zur Kenntlichkeit zuspitzt. Um das Leben von Joseph Schumpeter ranken sich zahllose Legenden. Eine handelt von seinem Ehrgeiz, seinem Selbstwertgefühl und seinen drei Daseinszielen; er selbst soll sie im Herbst seines Lebens immer wieder zum Besten gegeben haben. Als junger Mann, so Schumpeter über Schumpeter, habe er der größte Ökonom der Welt sein wollen, der erste Reiter Österreichs und der beste Liebhaber Wiens. Heute, alt genug, um Bilanz zu ziehen, müsse er feststellen: Die Sache mit den Pferden habe nicht geklappt.

Der größte Ökonom des 20. Jahrhunderts aber war er zweifellos. Schumpeter hat uns so geläufige Begriffe wie „Innovation“, „Wagniskapital“ und „Firmenstrategie“ hinterlassen, die starke Metapher der „schöpferischen Zerstörung“ erfunden und den drei Produktionsfaktoren der Klassiker (Boden, Arbeit, Kapital) einen vierten hinzugefügt: das Unternehmertum. Praktisch im Vorübergehen hat er das Kreativitätsprinzip geboren, der Management-Theorie Pate gestanden und das Genre der Firmengeschichte aus der Taufe gehoben. Vor allem aber hat Schumpeter Wirtschaftsgeschichte geschrieben, im doppelten Sinn des Wortes: als kühner Neuerer seiner Zunft – und als brillanter Analytiker des Industriezeitalters. Schumpeter hat Adam Smith überwunden, Karl Marx Lügen gestraft und als Zeitzeuge von Fließbandfertigung, Massenkonsum, Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise und Wohlstandsexpansion eine Morphologie des modernen Kapitalismus vorgelegt, deren Gültigkeit bis weit hinein in unser Internet-Zeitalter reicht.

Moderne Wirtschaftsordnung als Fortschritt ohne Ziel

Sein vielleicht wichtigster Beitrag zur „Geschichte der ökonomischen Analyse“, so der Titel seines letzten Buches, besteht jedoch ironischerweise darin, dass Schumpeter bei aller Pionierarbeit keine Schule begründet hat. Schumpeter war ein Einspruchsdenker, ein Mann, der sich zeit seines Lebens gegen die ökonomische Mode stellte und sich selbst gern ins Wort fiel. Er dachte in Prozessen, nicht in Modellen, weil er von der unerschöpflichen Energie der „kapitalistischen Maschine“ überzeugt war und vom „ewigen Sturm“ des wirtschaftlichen Wandels. Er verstand die moderne Wirtschaftsordnung als evolutionäre Entwicklung ohne Endpunkt, als Fortschritt ohne Ziel, ständig in Bewegung dank revolutionärer Erfindungen und ruckartiger Innovationsschübe. Entsprechend begriff er seine Wissenschaft: als offenen Erkenntnisweg und dauernden Versuch, „analytische Gebäude in nimmer endender Form“ aufzubauen, auszubauen – und niederzureißen.

Weil der Kapitalismus für ihn nicht nur ein Wirtschaftssystem darstellte, sondern eine „Kulturform“, bezog er systematisch Erkenntnisse aus Geschichte, Soziologie und Psychologie in seine Forschung ein – und bastelte sein Gelehrtenleben lang an einem großen, interdisziplinären Gesamtkunstwerk über das Wesen und die Struktur des Kapitalismus. Seine viele Tausend Seiten umfassenden Bücher, Aufsätze und Artikel lesen sich wie ein historisch ausgreifender Gesellschaftsroman, der sich über vier Jahrzehnte hinweg zu einem hochkomplexen, Mathematik und Methode mit sozialwissenschaftlicher Kompetenz verbindenden Œuvre rundet, dessen Gelehrtheit, Reflexionskraft und Vielschichtigkeit die Generation Business School unendlich beschämt.

„Denke immer das Neue ins Offene!“

Es zeichnet Schumpeter aus, dass erzeit seines Lebens und posthum sowohl von Liberalen (Friedrich August von Hayek) als auch von Marxisten (Paul Sweezy) bewundert wurde – und dass sein größter Schüler, Nobelpreisträger Paul Samuelson, als strenger Statistiker Karriere machte. Heute, sechs Jahrzehnte nach seinem Tod, ist die Faszination, die von seinem Werk ausgeht, größer denn je. Der finanzmarktliberale Staatsschuldenkapitalismus hat sich rettungslos verausgabt, die Welt steht vor einer Rezession, die Wirtschaftswissenschaften stecken in einer Identitätskrise – in einer solchen Lage liest man besser nicht am Werk eines Ökonomen vorbei, das sich durch analytische Schärfe und ein Höchstmaß an Widersprüchlichkeit auszeichnet.

Einerseits hat uns Schumpeter eine kapitalistische Welt hinterlassen, die er nicht nur beschrieben, sondern auch geformt hat: Wir haben uns so lange in seinen dynamischen Evolutionsbegriffen eingerichtet und an seinen Fortschrittsideen orientiert, bis sich die Expansionslogik des Kapitalismus zuletzt als eine Art Geschichtsdeterminismus gegen uns selbst wendete, als tragisches Naturgesetz und böser Systemzwang. Andererseits hat uns Schumpeter mit einem multidisziplinären Denken beschenkt, dessen „ungeschulte“ Grenzenlosigkeit allein mit der wachsenden Geschwindigkeit globaler Veränderungsprozesse Schritt zu halten verspricht. Nicht die eine Spiel-, Angebots-, Konjunktur- oder Grenznutzentheorie, sondern Schumpeters kapitalistischer Imperativ – „Denke immer das Neue ins Offene!“ – weist uns heute den Weg in eine unbestimmte Zukunft.

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  • Schumpeter und die Zivilisationsmaschine
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