Arbeitsmarkt Hartz IV - das Gesetz der Angst

Hartz IV hat den Arbeitsmarkt belebt - doch man verbindet die Reform mit Abstieg und Armut. Was muss geändert werden? Erste Hinweise dürfte ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Höhe der Hartz-IV-Regelsätze liefern. Erwartet wird, dass die Richter die größte Sozialreform der Bundesrepublik kippen.

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Umstritten: die Hartz-IV-Reform. Quelle: ap Quelle: handelsblatt.com

HAMBURG. Er kennt sich aus, ihm kann man nichts vormachen. " Ich merke es den Leuten an, wenn sie keine Arbeit haben" , sagt Burkhard Bach*. "Ich sehe es in ihrem Blick, an der Art, wie sie zur Tür hereinkommen." Bach ist ein kleiner, drahtiger Mann von Mitte 50, der gern redet und seit bald drei Jahrzehnten in einer süddeutschen Universitätsstadt als Lehrer in der Erwachsenenbildung arbeitet. Es ist eine besondere Klientel, um die er sich kümmert. Menschen etwa, die nie einen Job hatten. Dazu schwer Vermittelbare und Überqualifizierte, Drückeberger und Pechvögel. " Vom Alkoholiker bis zum promovierten Ingenieur - ich hatte alle vor mir sitzen" , sagt Bach. Er hat seine Leute in Buchführung unterrichtet, in Marketing, er hat ihnen erklärt, wie man Bewerbungen schreibt, und manchmal auch den Therapeuten gespielt. Burkhard Bach weiß, wie es sich anfühlt, 30 Jahre lang jeden Tag zu arbeiten und dann plötzlich aussortiert zu werden. Jedenfalls dachte er, er wisse das.

Bis es ihn selbst erwischte.

Im vergangenen Sommer bekam er einen Brief von seinem letzten Arbeitgeber. Sein Vertrag werde nicht verlängert, stand darin. In der Weiterbildungsbranche ist das nichts Ungewöhnliches. Das Neue für Bach war, dass er auch anderswo keinen Vertrag mehr bekam. Und das, obwohl er doch ausgerechnet in der Branche tätig war, die den Menschen auf die Beine half, damit sie arbeiten können, damit sie sich nützlich machen!

Seitdem bleibt Bachs Opel am Morgen auf dem Hof stehen. Sechs Monate habe er noch, sagt der gelernte Bankkaufmann und studierte Sozialpädagoge Burkhard Bach. " Noch 180 Tage. Dann fall ich in Hartz IV."

Es liegt an Menschen wie Burkhard Bach, dass in Deutschland gerade wieder erbittert über die Arbeitslosigkeit gestritten wird - und über den Sinn der Hartz-Gesetze. Es liegt an Leuten wie ihm, dass Politiker wie die neue Arbeitsministerin Ursula von der Leyen plötzlich mitfühlende Sätze sagen, die lange nicht zu hören waren: Arbeitslosigkeit ist kein Makel. Du bist nicht allein. Du bist nicht schuld, jedenfalls nicht in erster Linie. Wir kümmern uns.

Vor fünf Jahren klang das noch ganz anders. " Wer kann, muss ran" - mit solchen Sätzen wurden damals die vier Hartz-Gesetze auf den Weg gebracht: für neuartige Formen der Zeitarbeit, für Existenzgründungen von Ich-AGs durch ehemalige Arbeitslose, für eine schärfere Arbeitspflicht und dergleichen mehr. Es waren Sozialdemokraten wie der damalige Arbeitsminister Wolfgang Clement, die solche Sprüche klopften. Es sollte eine Jahrhundertreform werden. Ein Aufbruch. Deutschlands Arbeitswelt sollte saniert werden wie ein kränkelnder Betrieb. CDU und SPD waren sich einig. Viele Politiker, viele Kommentatoren wollten damals am liebsten einen noch radikaleren Umbau des Systems.

Doch zum Jahresbeginn 2010 sieht die Sache ganz anders aus. Hartz IV ist Alltag für sechs Millionen Menschen, die aus dieser Kombination von Sozialgeld und Arbeitslosengeld II leben. Hartz IV ist auch ein Schreckensszenario geworden für Millionen von Menschen, die morgen ohne Job dastehen könnten: für die Kurzarbeiter, die befristet Beschäftigten, die Angestellten in krisengeschüttelten Branchen bis weit hinauf in die Mittelschicht. " In der Krise schwindet die Akzeptanz für die Hartz-Gesetze bis weit in bürgerliche Kreise hinein" , sagt der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann. Hartz IV sei zur " Chiffre für die Abstiegsangst der Deutschen" geworden, sagt der Jenaer Soziologe Stephan Lessenich.

Hartz IV hat die politische Landschaft in Deutschland verändert. Bei den Wahlen wurden Sozialdemokraten verlässlich abgestraft, auch bei den Genossen griff die Abstiegsangst um sich. Überall rücken Politiker von dem Reformwerk ab.

Hartz IV gilt als ein Makel. Ein Schandmal für jene, die staatliche Hilfe in Anspruch nehmen; ein Schlüsselwort für einen way of life der subventionierten Nutzlosigkeit und höchstwahrscheinlich auch der Faulheit. Es gibt heute Hartz-Kochbücher, Hartz-Ratgeber, Hartz-Kneipen. Es gibt Jugendliche, die das Wort " rumhängen" durch " hartzen" ersetzen und dennoch in dieser krisengeschüttelten Wirtschaftswelt trotzig " Hartz IV" als ihr Berufsziel angeben. Im Fernsehen kommt kaum eine Talkshow ohne einen Hartz-Empfänger aus, und der darf dann je nach Bedarf mal den faulen Arbeitslosen repräsentieren und mal das Opfer unfähiger Vermittler.

So ist aus der Jahrhundertreform eine politische Jahrhundertblamage geworden, ein Programm der sozialen Kälte, das statt einer Aufbruchstimmung vor allem Angst und Frust verbreitet hat - viele Menschen sehen es zumindest so. Wohl kaum eine Sozialreform zuvor hat das gesellschaftliche Klima stärker belastet als Hartz IV.

In Berlin wird deshalb neu debattiert: Brauchen wir die Hartz-Reformen noch? Was haben sie gebracht? Passen sie in eine Zeit, in der Tausende trotz mustergültiger Arbeitsbiografie ihren Job verlieren? Ausgerechnet ein Unionspolitiker fordert heutzutage besonders laut die " Generalrevision" der Hartz-Gesetze. Jürgen Rüttgers will im Mai in Nordrhein-Westfalen erneut zum Ministerpräsidenten gewählt werden, und er will das mit einer großen Debatte über die Arbeitsmarktgesetze schaffen. " Die Revision kommt in den nächsten Monaten Schritt für Schritt" , sagt Rüttgers.

Es hat wieder geschneit letzte Nacht, und wieder sind die Leute früh aufgestanden und haben die Gehwege geräumt. So ist das üblich in dem Vorort jener Universitätsstadt, in der Burkhard Bach wohnt. Man tut seine Pflicht, man wahrt den Schein, man hat ein Reihenhaus. Oder zumindest eine ordentliche Wohnung. Viele Ingenieure leben hier, Professoren, höhere Beamte. Keine Arbeitslosen.

Burkhard Bach muss jetzt nicht mehr früh aufstehen. Aber wenn er erst um neun oder zehn Uhr morgens die Rollläden hochzieht, kann es passieren, dass die ältere Dame von gegenüber ihn fragt, ob er krank sei. Oder freihabe. Er murmelt dann etwas von neuen Arbeitszeiten.

Burkhard Bach war nie ein Großverdiener. 3000 Euro brutto, mehr habe er nie verdient, sagt er. Aber er hat keine Familie, wohnt allein. Er hat sparsam gelebt, sich eine Wohnung gekauft und abbezahlt, er konnte mithalten. Im Stadtviertel, im Volleyballverein, beim Naturschutzbund. Er will, dass das so bleibt. Der Mann, der in seinem Leben mit vielen Hundert Entlassenen gesprochen hat, findet den Gedanken, man könnte ihn mit Hartz IV in Verbindung bringen, unerträglich.

Es hat sich etwas geändert. Die Arbeitslosen, das sind plötzlich nicht mehr die anderen. Deutschlands Wirtschaft mag allmählich wieder aus der Krise herauskommen, aber die meisten Prognosen lauten, dass es am Arbeitsmarkt noch lange finster aussehen wird. Heute sind 3,3 Millionen Menschen arbeitslos, zusätzlich sind 1,1 Millionen in Kurzarbeit. Das ist Teil einer globalen Schieflage. Die Welt-Arbeitslosenzahl, das teilte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) am Mittwoch mit, habe mit 212 Millionen Menschen ohne Beschäftigung bis Ende 2009 " ein noch nie zuvor gesehenes Ausmaß" erreicht; 34 Millionen mehr als 2007.

Eine ökonomische Extremwetterlage - und die Hartz-Gesetze, ist jetzt häufig zu hören, waren vielleicht eher für schönes Wetter gemacht. " Mehr Druck auf Arbeitslose - das ist nicht unsere Linie" , sagt heute selbst der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP im Bundestag, Johannes Vogel. Und als der hessische Ministerpräsident Roland Koch kürzlich eine Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger forderte, fand er kaum Unterstützer für seine Position. Selbst Angela Merkel distanzierte sich. " Die Zeit der gesellschaftlichen Denunziation von Arbeitslosen ist vorbei" , glaubt der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter. Mit Sprüchen über Faulenzer, Sozialschmarotzer und Drückeberger könne ein Politiker heute bei der Mehrheit der Wähler nicht mehr landen. Sind damit auch die Hartz-Paragrafen, die fördern und auch mit Nachdruck fordern sollten, bloß noch ein Programm von gestern?

" Hartz IV ist zu einem Assoziationsraum geworden" , sagt Peter Kurz. Er breitet seine Arme aus, als wollte er einen riesigen Ballon umfassen, " ein Assoziationsraum, mit dem alles Negative verbunden wird." Peter Kurz, 47, SPD, ist seit zweieinhalb Jahren Oberbürgermeister der Stadt Mannheim. Ein ruhiger, eher zurückhaltend auftretender Typ, doch beim Thema Hartz wird er richtig leidenschaftlich. " Ich mache mir ernsthaft Sorgen um unsere politische Kultur" , sagt er, " denn wir diskutieren nur noch über Meinungen und Begriffe, aber kein Mensch interessiert sich mehr für die Ergebnisse unserer Politik!" Hartz IV sei entgegen der landläufigen Meinung " eine der gelungenen, der herausragenden Sozialreformen" .

Ein Hartz-IV-Verteidiger! Es gibt sie noch. Der OB hat sich an diesem Morgen noch einmal die aktuellen Arbeitsmarktdaten für seine Stadt geben lassen. Er beugt sich vor. " Wissen Sie, wie viele junge Arbeitslose wir in Mannheim heute haben? Früher waren es immer weit über 1000, ich erinnere mich sogar an über 3000. Heute sind es 75." Und von denen seien die wenigsten länger als ein Jahr arbeitslos. " Diese Fälle kennt der Amtsleiter persönlich - es sind fünf."

Auch die weiteren Zahlen, die er nennt, sind beeindruckend: nur noch halb so viele Langzeitarbeitslose, 1000 ältere Erwerbslose vermittelt, selbst in einem Problembezirk - Hochstätt, so etwas wie Neukölln in Berlin - die Arbeitslosenquote unter den städtischen Schnitt gesenkt. " Das zeigt" , fasst Kurz zusammen, " es funktioniert!"

Man kann mit Landräten und Bürgermeistern wie Peter Kurz reden. Man kann bei Arbeitsmarktstatistikern und anderen Verwaltungstechnokraten fragen. Wenn man es tut, ändert sich das Bild plötzlich, denn diese Leute reden von Erfolgen mit Hartz IV. Bundesweit ist die Zahl der Arbeitslosen und insbesondere derjenigen, die schon länger als ein Jahr ohne Beschäftigung sind, seit dem Reformjahr 2005 drastisch gesunken (siehe Grafiken). Und die meisten Arbeitsmarktexperten sind überzeugt: Das ist nicht allein dem Aufschwung zu verdanken, den das Land in diesen Jahren erlebte.

Sie können nicht exakt bestimmen, welchen Anteil Hartz IV und die anderen Hartz-Reformen daran hatten. Eine Reihe von Indizien weist aber darauf hin, dass mehr im Spiel war als das normale Auf und Ab der Konjunktur.

Erstmals seit Jahrzehnten wurde der sogenannte Arbeitslosigkeitssockel kleiner. Das ist ein Block von Arbeitslosen, der früher selbst in einem Boom nicht verschwand, sondern von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus größer wurde.

Das vergangene Konjunkturhoch führte zu weit mehr Beschäftigung als das vorherige - obwohl die Wirtschaft gleich stark wuchs. Je nach Berechnung stieg die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden zwei- bis fünfmal so stark. Dabei entstanden besonders viele voll sozialversicherte Arbeitsplätze: rund 1,3 Millionen statt 700.000, wie im Aufschwung zuvor.

Das Verhältnis von offenen Stellen zu Arbeitslosen hat sich verändert. Gegenwärtig werden etwa so viele Jobs angeboten wie Anfang 2006 - aber es gibt 1,3 Millionen weniger Erwerbslose. Offenbar gelingt es heute besser, Stellen und zu ihnen passende Bewerber zusammenzubringen.

" Alle diese Punkte deuten auf einen Erfolg der Reformen hin" , sagt Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. " Es entspricht auch Erfahrungen, die skandinavische und angelsächsische Länder schon zehn Jahre früher gemacht haben. Wir haben nur nachvollzogen, was anderswo bereits erprobt war: die aktivierende Arbeitsmarktpolitik."

Erprobt, erfolgreich, aktivierend. Das ist das Gegenteil jenes Bildes, das sich in den Köpfen festgesetzt hat, nämlich Hartz IV gleich Chaos, Druck und Sanktionen. Kritiker sagen, die größte Wirkung hätte die Reform dadurch entfaltet, dass sie die Arbeitnehmer in Angst und Schrecken versetzt habe. Sie hätten deshalb niedrigere Löhne akzeptiert oder im Notfall den erstbesten Job genommen, und nur daher sähen die Arbeitslosenzahlen besser aus.

Dass Hartz IV auch auf die Beschäftigten ausgestrahlt hat, dass das Gesetz die Angst um den eigenen Arbeitsplatz erhöht - das glauben sogar viele Befürworter der Reform. Doch an dieser Stelle beginnen die Differenzen, und das liegt teils an einer unterschiedlichen Lesart der Fakten und teils an unterschiedlichen Ideologien.

Der Niedriglohnsektor in Deutschland, sagen die Hartz-IV-Anhänger, sei nicht wegen der Reformen angeschwollen. Er habe schon lange vor der Agenda-Politik zu wachsen begonnen, allein 1999 und 2002 kam jeweils fast eine Million gering bezahlte Jobs hinzu. Daran und auch an Armut, steigender Ungleichheit und geringer Aufstiegsmobilität seien andere Dinge schuld. Zum Beispiel die deutsche Wiedervereinigung, die Globalisierung, das Bildungssystem.

Nach dieser Logik ist die Entstehung eines Niedriglohnsektors sogar nötig. Viele Menschen hätten ohne gering bezahlte Stellen gar keine Chance auf eine Teilhabe am Erwerbsleben; und ein Sozialstaat, der auf Dauer den Lebensstandard sichert, sei nicht mehr finanzierbar. In dieser Logik sind die Arbeitsmarktreformen der Versuch einer Antwort auf Armut und Ungleichheit, nicht ihre Ursache.

Die Befürworter der Reform sagen auch: Die meisten Härten im Gesetz gab es auch schon vor Hartz IV. Beispiel Schonvermögen: Auch als noch das alte System aus Sozial- und Arbeitslosenhilfe galt, bekam nur Geld, wer nicht über große Ersparnisse verfügte. Die Regeln für das sogenannte Schonvermögen waren zum Teil deutlich rigider als heute.

Beispiel Zumutbarkeit: Für Langzeiterwerbslose galten früher bereits Tätigkeiten als zumutbar, die nicht ihrer Qualifikation entsprachen, ebenso gab es schon vor den Hartz-Reformen so etwas wie Ein-Euro-Jobs.

Beispiel Regelsätze: Der Staat hielt Bedürftige schon vor 2005 extrem kurz. Die Sozialhilfe bewegte sich mit 295 Euro im Monat plus einmaliger Hilfen etwa auf der Höhe von Hartz IV (bei der Einführung 345 Euro). Die Arbeitslosenhilfe betrug im Mittel 550 Euro - aber dabei zahlte das Amt nicht automatisch noch die Miete und den Unterhalt für die Kinder. Ein durchschnittlicher Arbeitslosenhilfeempfänger erhielt daher erst mit ergänzender Sozialhilfe oder mit Wohngeld Leistungen auf Hartz-Niveau.

Was braucht man zum Leben? So mancher entdeckte diese Frage erst im Streit um die Hartz-Reformen. Vorher hatten sich die höheren Stände kaum für die Not von Sozialhilfeempfängern interessiert. Selbst die Richter in Karlsruhe konnten sich nie dazu durchringen, dem Staat klare Leitlinien für ein menschenwürdiges Existenzminimum an die Hand zu geben - am 9. Februar wollen sie das jetzt erstmals tun. Womöglich werden sie die Politiker zwingen, die Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger und ihre Kinder zu erhöhen.

Neuerdings verlässt Jasmin Franke* ihre Wohnung schon in aller Frühe. Um acht Uhr bringt sie ihre dreijährige Tochter in den Kindergarten. Dann macht sie sich auf den Weg zur Arbeit oder zur Berufsschule. Montags und mittwochs ist die Schule dran, dienstags außerdem eine Art Nachhilfeunterricht beim Verein Förderband, donnerstags, freitags und samstags geht sie zur Arbeit. Genauer gesagt: zu ihrer Ausbildungsstelle in einem Mannheimer Supermarkt. Seit September absolviert die 22-Jährige eine Umschulung zur Einzelhandelsverkäuferin. Die eine Hälfte der Woche paukt Jasmin Franke jetzt Mathe und Englisch, in der anderen Hälfte lernt sie, Waren richtig zu sortieren, Kunden und Kassensystem zu bedienen. Nur am Sonntag hat sie frei. Anstrengend, das alles, doch für die junge Frau ist es eine Chance.

Bislang hatte Jasmin Franke kaum Berührung mit der Arbeitswelt. Sie wuchs mit acht Geschwistern bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, die zeitweise Sozialhilfe bezog. Jasmin Franke selbst ließ sich nach ihrem Hauptschulabschluss vor sieben Jahren " erst mal treiben" , wie sie einräumt. Inzwischen ist sie alleinerziehend, was einen Berufseinstieg lange Zeit erschwerte. Das ist nun anders. Um diese Gruppe von Hartz-IV-Empfängern will sich Ursula von der Leyen besonders kümmern.

" Ich möchte meiner Tochter heute ein Vorbild sein und nicht nur zu Hause herumsitzen" , sagt Jasmin Franke. In Mannheim hat die Hilfe für sie offenbar gut funktioniert: Das Jobcenter hat für sie eigens eine Umschulung in Teilzeit organisiert, über zwei Jahre vom Amt finanziert. Und ihre Betreuer im Umschulungsprogramm haben auch bei den ersten Startschwierigkeiten geholfen. Als Jasmin Franke nämlich zu arbeiten anfing und ihre Tochter in den Kindergarten schickte, fing diese sich erst einmal einen Infekt nach dem anderen ein. Die junge Mutter musste sich daher immer wieder bei ihrem Ausbildungsbetrieb abmelden - und ihr wäre beinahe gekündigt worden. Ein Betreuer half, den Konflikt zu schlichten.

Auch das ist ein Teil der Hartz-Wirklichkeit. Das viel beschworene Fördern der Betroffenen. Es wird tatsächlich gefördert, auch wenn das immer noch zu kurz kommt. Jemand, der die Vergangenheit mit der Gegenwart vergleichen kann, ist Hermann Genz. Er baute schon 2002 in Köln ein Jobcenter auf, in dem das Sozialamt und das Arbeitsamt die radikale Idee ausprobierten, Erwerbslose nicht mehr nur zu verwalten. Es wurde zu einem Modell für die Hartz-Reform - die Mitglieder der Kommission besuchten das Jobcenter und waren beeindruckt. Heute leitet Genz das Jobcenter in Mannheim.

Wenn Genz über Hartz IV redet, spricht er nicht über die richtige Portion Druck auf Arbeitslose. Er erzählt, wie die Sachbearbeiter in den Sozialämtern früher damit beschäftigt waren, Bekleidungslisten zu führen, um zu entscheiden, wann jemandem wieder Geld zusteht. " Wir hatten sogar Vorschriften, wie lange Unterwäsche aufgetragen werden muss" , sagt Genz, " mit unterschiedlich langen Fristen für Männer und Frauen." In diesem System bekamen die Menschen Geld und Laufzettel, die sie sich bei verschiedenen Behörden abstempeln lassen mussten. Auf Beratungstermine warteten sie aber oft monatelang.

Heute kommt, zumindest im Jobcenter Mannheim, schon zum ersten Gespräch gleich ein Arbeitsvermittler hinzu, ein Schuldenberater oder etwa ein Experte für Unterhaltsfragen. " Wir schicken die Menschen nicht irgendwohin" , sagt Genz. " Wir versuchen, ihre Probleme so schnell wie möglich zu lösen."

Um Probleme geht es eben oft bei Hartz IV. Zwar ist die Hälfte der Empfänger gar nicht langzeitarbeitslos, wie immer geglaubt wird. Denn auch Uni-Absolventen oder Lehrlinge beantragen häufig Arbeitslosengeld II, wenn sie nach ihrer Ausbildung nicht gleich eine Stelle finden. Aber viele Menschen in den Jobcentern müssen tatsächlich mit mehr Problemen kämpfen als mit dem ersten Satz in ihrem Bewerbungsschreiben. Sie wissen nicht, wo sie ihre Kinder unterbringen sollen, wie Jasmin Franke, sie haben keinen Schulabschluss oder mangelhafte Deutschkenntnisse, manche hängen am Alkohol, fast die Hälfte gibt Gesundheitsprobleme an - ob als Ursache oder Folge langer Untätigkeit.

Die politische Debatte aber - sie dreht sich in diesen Tagen fast nie um diese Bedürftigen und ihre Probleme. Inzwischen sind jede Menge Verbesserungsvorschläge im Angebot, allen voran Roland Kochs Vorschlag, mehr Druck auf Arbeitslose auszuüben. Andere wollen weniger Druck (Linkspartei), bessere Zuverdienstmöglichkeiten (FDP), mehr Geld für langjährige Beitragszahler (Jürgen Rüttgers), eine bessere Schonung der angesparten Vermögen (quasi alle Parteien).

Viele solcher Vorschläge zielen vor allem auf die Wählerstimmen der qualifizierten, motivierten Arbeitnehmer der Mittelschicht. Die nach vielen Jahren ununterbrochener Berufstätigkeit plötzlich in Hartz IV zu fallen drohen. Die um ihr Erspartes bangen. Die nicht irgendwann genauso behandelt werden wollen wie ein Sozialhilfeempfänger. Nur: Für die große Masse der Hartz-IV-Fälle sind diese Vorschläge nicht relevant. Ein Beispiel: Nur 0,2 Prozent aller Anträge auf Arbeitslosengeld II werden wegen zu hoher Vermögen abgelehnt.

Selbst die Diskussionen um ein verlängertes Arbeitslosengeld I zielen eher auf die Psyche einer bestimmten Schicht als auf die wirklich Betroffenen. Für viele Arbeitslose macht es zumindest finanziell keinen großen Unterschied, ob sie Arbeitslosengeld I oder das viel umstrittenere Arbeitslosengeld II, die Grundsicherung, beziehen. Denn das normale Arbeitslosengeld (60 Prozent des letzten Nettolohns) liegt im Mittel viel tiefer, als die meisten ahnen: bei 770 Euro. So viel erhält zum Beispiel auch ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger in Frankfurt am Main (Regelsatz plus Unterkunftskosten).

Deutlich mehr - über 1500 Euro Arbeitslosengeld I im Monat - bekommt nur ein Bruchteil aller 3,3 Millionen Erwerbslosen, es sind 53.000. Arbeitslosigkeit trifft eben besonders häufig Geringverdiener, Saisonarbeiter, Teilzeitkräfte und viele andere, die sich mal mit diesem, mal mit jenem Job durchschlagen müssen. Ihnen helfen auch höhere Vermögensfreigrenzen wenig.

Was muss geschehen, damit aus den Hartz-IV-Gesetzen doch noch eine Jahrhundertreform wird? Es gibt Antworten, wenn man ernsthaft nach ihnen sucht. Was den Arbeitssuchenden am meisten fehlt, ist eine bessere Förderung - damit sie qualifiziertere Aufgaben übernehmen können, die besser bezahlt und stabiler sind.

Statt dies kontinuierlich auszubauen, statt neue und kreative Ideen ins Werk zu setzen, herrscht im Augenblick bei vielen Arbeitsvermittlern in den Jobcentern sogar große Verwirrung darüber, wie es an ihrem eigenen Arbeitsplatz weitergeht. Das Bundesverfassungsgericht verlangte vor zwei Jahren eine neue Rechtsgrundlage für die Jobcenter. Die Regierung hat erst jetzt einen Plan dafür vorgelegt, wie er in der Praxis funktioniert, weiß noch niemand. Das Fördern zu unterschätzen, sei der eigentliche Fehler der Hartz-Reformen gewesen, sagt heute die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt: " Wir hätten mehr dafür tun müssen, damit das nicht nur im Gesetz steht, sondern vom Tag eins an auch in den Jobcentern geschieht."

Doch greift an dieser Stelle eine brutale politische Logik. Fördern ist teuer. Die Idee des Förderns ist für Politiker im Wahlkampf ein viel zu sperriges Thema. In den kommenden Monaten wird es kaum im Vordergrund stehen. Kurzfristig dürfte die Bundesregierung einige Elemente der Reform ändern (siehe Kasten), die wenig kosten. Ansonsten dürfte nach Phase eins der Jobrhetorik (" Wer kann, muss ran" ) und der nun beginnenden Phase zwei (" Wir kümmern uns" ) spätestens im Juni eine dritte Phase folgen: Dann wird der Haushalt für das Jahr 2011 aufgestellt, dann muss gespart werden.

Werden die Steuereinnahmen nicht erhöht, müssen in dieser Legislaturperiode 60 Milliarden Euro irgendwo gestrichen werden. Ohne Kürzungen im Sozialetat wird es nicht gehen. Dann entscheidet sich, wer die Zeche für die Krise zahlt - und ob es viele Beschäftigte doppelt trifft. Erstens, weil sie ihren Job verlieren. Zweitens weil der Staat ausgerechnet jetzt Hilfen kürzt. Es wird auch darum gehen, ob die Arbeitsmarktgesetze einen neuen Namen bekommen sollen. Jürgen Rüttgers hat das vorgeschlagen. Bei einer Debatte im CDU-Präsidium zeigte sich kürzlich, wie wichtig den Politikern diese Reform-der-Reform-Debatte wirklich ist. " Jeder im Land weiß, dass vor allem drei Sozialdemokraten dieses Gesetz gemacht haben" , erklärte Kanzleramtschef Ronald Pofalla. " Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Wolfgang Clement. Zwei davon kommen aus Nordrhein-Westfalen." Die Runde war sich einig: Der Name bleibt, die Reformdebatte auch. Beides schadet ja vor allem der SPD.

* Name geändert

Mitarbeit: Wolfgang Uchatius

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