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Die Nato gießt Öl ins Feuer

Kriegsgerät vor der Tagungsstätte und Jagdbomber am Himmel – so kann das westliche Militärbündnis die Ukraine-Krise nur noch weiter anheizen. Gut, dass endlich auch Wissenschaftler Kontrapunkte setzen.

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Kein Zeichen der Enspannung: Regierungschefs und Minister der Nato-Staaten posierten während des Gipfels in Wales vor einem Kampfflugzeug – und beobachteten dabei eine Militär-Flugshow. Quelle: dpa

Es ist kaum zu glauben. Eigentlich ist es die Zeit für Deeskalation, in der allen voran Deutschland und die EU die Initiative ergreifen, um Wege aus der Ukraine-Krise aufzuzeigen, die das über Jahrzehnte erworbene friedliche und wirtschaftliche Zusammenwirken mit Russland bewahren. Stattdessen erlaubt die Bundesregierung es der Nato, allen voran den USA, das Gipfeltreffen im Celtic Manor Hotel in der vorigen Woche in Wales als Waffenschau und Veranstaltung des Säbelrasselns zu inszenieren.

Ein Nachbau des Kampfjets vom Typ F-35-Lightning, dazu ein Panzer und ein paar leger herumliegende Raketen auf dem Golfrasen vor der Tagungstätte – vor dieser Kulisse durfte der scheidende Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen den Russen dann entgegenschleudern: „Wer auch nur daran denkt, einen Verbündeten anzugreifen, bekommt es mit dem ganzen Bündnis zu tun.“ Da war eine Botschaft wie eine Bombe, die ihre Wirkung nicht verfehlte.

„Ab heute wieder Kalter Krieg“ titelte die Bild-Zeitung und zeigte ein Foto, auf dem sich im Oktober 1961 im damals geteilten Berlin russische und amerikanische Panzer gegenüber standen. Damit wird der Eindruck erweckt, der russische Staatspräsident Wladimir Putin plane den Einmarsch in Lettland, Estland, Litauen oder Polen und wüsste obendrein nicht, dass ein Angriff auf ein Nato-Land natürlich die Mitglieder zum militärischen Beistand verpflichtet.

Das grenzt nicht nur an absurdes Theater. Auf diese Weise schütten die Nato und allen voran die Amerikaner in erster Linie Öl ins Feuer.

Weltmächte denken in Einflusssphären

In einer solchen Situation ist es wohltuend, dass sich – endlich – auch Experten aus der Wissenschaft zu Wort melden, um Licht in das „Dunkel des gelebten Augenblicks“ zu bringen, wie einst der deutsche Philosoph Ernst Bloch sagte. Einer von ihnen ist Heinz Theissen, Professor für Politikwissenschaften und Sozialpolitik an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Er kritisiert „wenig Bemühen um ein Verstehen“ grundlegender Erkenntnisse im Ukraine-Konflikt. Für ihn steht fest, dass Weltmächte – ob die USA oder Russland – seit jeher in Kategorien von Einflusssphären denken und dies aus ihrem Selbstverständnis heraus als legitim empfinden.

Die Sanktionen der EU und USA gegen Russland

Die EU tue das nicht, erkläre mit ihrer „universalistisch-liberalen Weltsicht“ aber die ganze Welt zu ihrer Einflusssphäre. Vor diesem Hintergrund, so lässt sich aus Theissens Darlegung folgern, war es nur eine Frage der Zeit, dass die EU mit ihrer Unterstützung der vermeintlichen Revolution in Kiew (Theissen: nicht nur aus russischer Sicht ein „Staatsstreich“) Putin auf den Plan rufen musste.

Die EU sei zu dem Sturz der immerhin gewählten Regierung der Ukraine nicht auf Distanz gegangen, meint Theissen und betont sodann: Sie stärke vielmehr Kiew den Rücken und planiere mit neuen Angeboten den Weg zum Westen, was Russland in ähnlicher Weise als geopolitischen Übergriff empfindet, „wie es die Vereinigten Staaten beim einem Bündnis zwischen Kanada und China täten.“

Putin ist nicht das Problem

Ich würde dieser Sichtweise in allen Punkten beipflichten. Wir schädigen mit der beschleunigten Sanktionsspirale und mit den völlig fehl geleiteten, wie Theissen sagt, „sich steigernden moralischen Empörungen“ extrem uns selbst. Wir haben über Jahrzehnte gute Beziehungen mit Russland begonnen, die uns zunächst nicht kommunistisch und danach nicht zu Dauer-Wodka-Trinkern und Kaviar-Essern gemacht haben. Dieses friedvolle und wirtschaftlich wertvolle Miteinander drohen wir nun durch die gegenwärtige Politik zu zerstören.

Das eigentliche Problem ist dabei nicht Putin, sondern die Ukraine intern. Wir haben hier auf der einen Seite den Milliardär und Staatspräsidenten Petro Poroschenko, der durchaus Realitätssinn erkennen lässt. Allerdings kann ich nur mit dem Kopf schütteln, weshalb die Nato mit Poroschenkos Teilnahme am Gipfel in Wales Putin weiter signalisieren musste: Achtung, Nato ante portas!

Auf der anderen Seite haben wir in der Ukraine einen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk, der keine Gelegenheit auslässt, um gegen Russland zu hetzen und so die russische Mehrheit in der Ost-Ukraine zu verunsichern. Dass US-Präsident Barack Obama vor dem Nato-Gipfel ins Baltikum reiste und dort Treueschwüre aussprach, war für mich eine ganz krasse Provokation gegenüber Russland und völlig deplatziert in der gegenwärtigen Situation. Hier wäre ein vermittelndes Auftreten angebracht gewesen anstelle purer Konfrontation.

Bedrohungen nachvollziehen

Ich freue mich, dass neben Theissen sogar ein ausgewiesener US-Militärstratege und Außenpolitikexperte, der Politikprofessor John J. Mearsheimer von der Unsiversität Chicago, Klartext in gleicher Richtung spricht. Putin habe die Krim nicht „aus der schon lange bestehenden Sehnsucht heraus annektiert, das sowjetische Großreich wieder aufzurichten“, schreibt er in einem bemerkenswerten Aufsatz im „Handelsblatt“.

Richtig sei vielmehr: „Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten tragen den Großteil der Verantwortung für die Krise.“ Und er kommt nach längeren, sehr aufschlussreichen Fakten zu einer verständnisvollen Sichtweise für die Situation, in der sich die russischen Politiker nach allem befinden, was die USA und die EU bisher zur Infiltration der Ukraine unternommen haben. „Wenn russische Führer das Social Engineering des Westens in der Ukraine sehen, befürchten sie“, schreibt Mearsheimer, „dass ihr Land das nächste sein könnte.“

Ich bin zutiefst überzeugt: Wir müssen verstehen, dass die Wahrnehmung von Bedrohungen, vor allem wenn sie nachvollziehbar sind wie in Russland, eine Tatsache ist, an der man als Politiker nicht verbeigehen darf. „Wahrnehmungen, ob richtig oder falsch, sind Realitäten, die ins Kalkül zu ziehen sind“, sagt Theissen völlig zurecht.

Vergessen wir nicht: Tun wir das nicht, liefern wir uns vollständig amerikanischen Wirtschaftsinteressen aus. Die USA wollen auf gar keinen Fall, dass Russland und Europa wirtschaftlich stärker werden, schon gar nicht gemeinsam. Dann gäbe es eine weitere riesige wirtschaftliche Gegenmacht zu den USA. Und das in einer Situation, in der sich China anschickt, nach der Kaufkraft die USA als größte Wirtschaftsmacht der Welt abzulösen.

Das müssen wir klar erkennen und dürfen deshalb die USA in ihrem Kurs nicht unterstützen, uns letztlich zu schwächen. Wir müssen uns Russland als wichtigen zukünftigen Wirtschaftspartner erhalten und dürfen auf keinen Fall die Konfrontationswünsche von Amerika erfüllen.

Immerhin werden die Amerikaner, ob sie wollen oder nicht, Russland noch brauchen: etwa im Kampf gegen den islamistischen Terror oder gegen das Atomprogramm des Iran. Damit sollten wir den Amerikanern selbstbewusst entgegentreten.

Gut, dass dies nun zwei Experten aus der Wissenschaft ähnlich sehen, die man bei dieser ihrer Herkunft nicht mit dem politischen Kampfbegriff Putin-Versteher totschlagen kann.

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