150 Jahre Kanada Das kanadische Experiment

Am 1. Juli 1867 wurde Kanada gegründet. Nun feiert sie den 150. Geburtstag ihres Staates – ein junges, multikulturelles Land, das international hoch angesehen ist, das aber auch seine Schattenseiten hat.

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Kanadas Premierminister Justin Trudeau: „Als Kanadier wissen wir, dass unsere Vielfalt uns stärkt.“ Quelle: Reuters

Kanada feiert sich. Der Nationalfeiertag „Canada Day“ am 1. Juli ist in diesem Jahr ein besonderer Feiertag: Der Staat Kanada wird 150 Jahre alt. Quer durch das Land finden Feiern statt, die größte Geburtstagsparty in der Hauptstadt Ottawa, wo am Parlament eine halbe Million Menschen erwartet werden.

Melissa und Andrew Gawrys sind mit ihren fünf Kindern wenige Tage vor den großen Feiern von Whitby bei Toronto nach Ottawa gekommen. Sie sind erstmals  hier und möchten Parlament und Museen vor dem großen Besucheransturm erkunden. „Wir möchten unsere Kinder nicht in der Menschenmenge verlieren“, sagt Melissa. Nun schlendern sie mit Isaiah, Grace, Emma und Abby im Alter von fünf bis zwölf Jahren über den Rasen vor dem Parlament, mit der einjährigen Kassandra auf dem Arm. Vor dem Parlament findet am Samstag die zentrale Feier mit Premierminister Justin Trudeau und Prinz Charles und dessen Frau Camilla statt. Hunderttausende werden als stolze Kanadier feiern – in die rot-weiße Ahornblattfahne gehüllt, die Gesichter rot bemalt und Fähnchen schwenkend.  

An der vor 50 Jahren zur 100-Jahrfeier am Parlament entzündeten „Centennial Flame“, der Jahrhundertflamme mit dem Brunnen, studieren Melissa und Andrew mit ihren Kindern die Wappen der Provinzen und Territorien. Kanada ist für sie das Land, das Menschen, die aus allen Gegenden der Welt einwandern, Respekt entgegenbringt. „Das ist einer der kanadischen Werte, die wir unseren Kindern beibringen wollen“, sagt Andrew. „Respekt, Toleranz und das Recht, seine Meinung frei und ohne Furcht zu äußern.“

Melissa ist gebürtige Kanadierin. Andrew hat einen ganz anderen Lebenslauf. „Ich bin ein Immigrant. 1981 kam ich als Fünfjähriger mit meinen Eltern aus Polen nach Kanada.“ Es war das Jahr, das mit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen und der Unterdrückung der Gewerkschaftsbewegung endete. Das hat ihn, obwohl er damals ein kleiner Junge war, gelehrt, den Wert einer freien, toleranten Gesellschaft zu schätzen.

Kanada ist ein Land der Weite mit faszinierenden Landschaften, aber auch mit modernen Städten und einem Rohstoffreichtum, um den es beneidet wird. Kanadier erfreuen sich generell eines hohen Lebens- und Bildungsstandards. International wird Kanada als das Musterland des Multikulturalismus und friedlichen Zusammenlebens unzähliger Ethnien gesehen.

Kanadas Einwanderungspolitik gilt als Vorbild. Das Land ist Heimat einer Bevölkerung mit mehr als 200 verschiedenen ethnischen Wurzeln und rund 200 Sprachen einschließlich der beiden offiziellen Landessprachen Englisch und Französisch und etwa 65 Sprachen der kanadischen Ureinwohnervölker. Knapp über 20 Prozent der heutigen Bevölkerung Kanadas wurden außerhalb des Landes geboren, in Städten wie Toronto und Vancouver reicht dieser Prozent an 50 Prozent heran.

2017 sei ein Jahr, das Potenzial dieses „großen Experiments“ Kanada zu begreifen, sagt Generalgouverneur David Johnston, Repräsentant von Königin Elizabeth II, die als „Queen of Canada“ das formale Staatsoberhaupt Kanadas ist: „Auch nach 150 Jahren ist Kanada ein sich fortentwickelndes soziales Experiment.“


Die Geschichte eines Volkes

Es ist ein Experiment in dem Sinn, dass sich bis zum heutigen Tag Menschen aus aller Welt, Alteingesessene und Neuankömmlinge, zusammenfinden, um diesen Staat zu einem Erfolg zu machen und sich in ihren Eigenheiten und ihrer Vielfalt weitgehend akzeptieren. Das kanadische Experiment geht aber nicht nur 150 Jahre zurück. In diesem Land lebten Tausende Jahre vor Ankunft der Europäer indigene Völker: indianische Völker, die heute als „First Nations“ bezeichnet werden, und die Inuit der Arktis. Ab dem 16. Jahrhundert kamen Franzosen, Briten, Iren, Schotten, Deutsche. Waldläufer und Pelzhändler drangen nach Westen vor, aus den Kontakten zwischen europäischen Siedlern und indianischen Völkern entstand das Volk der „Metis“, das heute als drittes indigenes Volk Kanadas anerkannt ist. Auf seine Diversität, also Vielfalt, kann Kanada aber nur stolz sein, wenn alle am Erfolg teilhaben, wenn Teilhabe garantiert ist. Und das ist, wie Johnston sagt, bei den Ureinwohnern, den indigenen Völkern, noch nicht erreicht. 

Dass sich Gebiete des heutigen Kanada, die Kolonien Großbritanniens waren, 1867 zu einem Staat zusammenschlossen, war weniger Ausdruck eines Strebens nach Unabhängigkeit. Es war eher das Bemühen, sich gemeinsam einem möglichen Expansionsbestreben der USA entgegenzustellen, wo der Sezessionskrieg zwischen Nord- und Südstaaten tobte. In mehreren Konferenzen wurde in Kanada und in London die „British North America Act“ ausgehandelt.

Im Frühsommer 1867 wurde sie vom Parlament in London verabschiedet und trat am 1. Juli in Kraft. Damit wurden die heutigen Provinzen Ontario, Quebec, Neu-Braunschweig und Neuschottland zum „Dominion of Canada“ vereinigt. Heute ist das fast zehn Millionen Quadratkilometer große Land ein Koloss vom Atlantik zum Pazifik und bis zum Eismeer. 1982 erhielt Kanada unter Premierminister Pierre Trudeau eine vom kanadischen Parlament verabschiedete Verfassung und Bürgerrechtscharta.

„Wir sind ein Land der Möglichkeiten“, sagt Donna Dykstra aus Beamsville in der Niagara-Region. „Unsere Gründerväter haben hart dafür gearbeitet und es ist wichtig, zum 150. Geburtstag in die Hauptstadt zu kommen und dies zu würdigen.“ Mit ihrem Mann George  hat sie eine Führung durch das Parlament gebucht. Ihre Elterngeneration, die aus Europa kam, sei gut aufgenommen worden, „und daher behandeln wir andere auch gut. Wir sind kein perfektes Land. Auch bei uns gibt es Rassismus, aber wir haben nicht die Spannungen, die wir anderswo sehen.“

„Als Kanadier wissen wir, dass unsere Vielfalt uns stärkt“, sagt der Premierminister Justin Trudeau. Mit der Wahl des jetzt 45-jährigen liberalen Politikers zum Premierminister im Oktober 2015 hat Kanada an Renommee gewonnen. Sein unkonventionelles Auftreten und sein Bekenntnis zu Feminismus, Einwanderung und die Aufnahme von Flüchtlingen haben ihm und Kanada international sehr viel Aufmerksamkeit und Anerkennung eingebracht. Er hebt immer wieder die  „kanadischen Werte“ hervor – Offenheit, Inklusion und Respekt gegenüber den Unterschieden, die zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen bestehen.

Die Wahl von US-Präsident Donald Trump zeigt der Welt, dass Kanada anders tickt. Eine populistische Bewegung, die auf Fremdenfeindlichkeit und Abschottung setzen könnte, kann auch in Kanada nicht ausgeschlossen werden, sie ist aber derzeit nicht in Sicht. US-Medien hatten Trudeau im US-Wahlkampf als „Anti-Trump“ beschrieben, ein Bild, das auch in Europa viel Resonanz fand. Angesichts des unberechenbaren Trump gilt Kanada den Europäern nun als der verlässliche Partner in Nordamerika, einer, der auf Offenheit und Kooperation statt auf Isolation und den Bau von Mauern setzt und nicht polternd auftritt.

Kanadier reagieren allergisch, wenn man sie mit den USA in einen Topf wirft. Denn die Unterschiede zu den USA sind frappierend. Die Todesstrafe ist abgeschafft. Ein Recht auf Waffentragen gibt es hier nicht. Kanada hat seit rund 50 Jahren ein staatliches Gesundheitssystem.


Nicht allen ist zum Feiern zumute

Kanadier sind – in ihrer Mehrzahl – stolz auf ihre Geschichte und Kultur: dass ihr Land die UN-Friedenstruppen mitinitiierte, dass es den Vertrag über das Verbot von Antipersonen-Minen vorantrieb und in der Welt meist als ausgleichende Kraft geschätzt wurde. Sie legen Wert auf einen eigenständigen Kurs ihres Landes und Distanz zu den USA, wie in Zeiten der Vietnamkriegs, als US-Deserteure nach Kanada kommen durften, oder wie vor 15 Jahren, als Kanada keine Soldaten in den von George W. Bush angezettelten Irak-Krieg schickte. Aber es gibt enge Beziehungen zu den USA, die Trudeau pflegen muss. Die Volkswirtschaften und die Sicherheitspolitik sind eng verflochten.

Nicht allen ist zum Feiern zumute. Das gilt für die Verfechter der Unabhängigkeit Quebecs von Kanada, die dem Bundesstaat weiter reserviert bis ablehnend gegenüber stehen und zweimal vergeblich in Referenden die Abspaltung von Kanada erreichen wollten.

Vor allem aber gilt es für die Ureinwohnervölker. Rassismus und Kolonialismus prägten lange Zeit die Haltung Kanadas gegenüber seinen indigenen Völkern. Die Tragödie der Internatsschulen, in denen Indianer- und Inuitkinder bis in die 1960er Jahre hinein zwangsassimiliert werden sollten, ihrer Sprache und Kultur beraubt wurden und viele psychischen, physischen oder sexuellen Missbrauch erlitten, gilt als das dunkelste Kapitel Kanadas. Wenn die indigenen Völker feiern, dann die Tatsache, dass sie trotz des Genozids durch die „Residential Schools“, die Kolonisierung und Unterdrückung „immer noch da sind, dass wir stärker werden und unseren Stolz wiedererlangt haben“, sagt Perry Bellegarde, nationaler Häuptling der indianischen Nationen.

Den Kanadiern ist bewusst, dass ihr Land nicht immer so tolerant und offen war wie heute. Es gibt weitere dunkle Flecken in der Geschichte – die Internierung japanischstämmiger Einwohner während des Zweiten Weltkriegs, die Zurückweisung eines Schiffs mit jüdischen Flüchtlingen, die Nazi-Deutschland entkommen waren, eine Einwanderungspolitik, die bis in die 1960er Jahre nicht-europäische Einwanderung beschränkte.

Die Versöhnung mit den Ureinwohnern ist eine der großen Herausforderungen, denen sich die Kanadier langsam bewusst werden und denen sie sich stellen müssen. Sie fragen aber auch, wie es in einer Gesellschaft, die auf Zuwanderung angewiesen ist, gelingen kann, „kanadische Werte“ als verbindendes Band zu erhalten.

Solche Gedanken plagen die siebenjährige Grace Gawrys noch nicht. Mit ihren Eltern steht am Parlament vor einem Poster für die Feiern zum „Canada Day“. „Es ist Zeit für Kanada“, verkündet es. Grace trägt einen Haarreif mit kanadischen Ahornblattflaggen. Bedeuten ihr diese Flaggen etwas? Man hört so viel über „proud Canadians“, die stolzen Kanadier. Grace kann damit nichts anfangen. „Sie gefallen mir einfach“, sagt sie nach kurzem Zögern. Dann läuft sie zur Jahrhundertflamme, die aus dem Wasser emporlodert und noch lange brennen soll.

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