Abwanderung Geisterstädte in Chinas Provinz

Straßen ohne Autos, Häuser ohne Bewohner, Flughäfen ohne Passagiere: ein Streifzug durch nutzlose Geisterstädte, die im Zuge des Investitionsbooms im ganzen Land entstanden sind.

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Leere Siedlung in Kangbashi Quelle: REUTERS

Scheinbar endlos reiht sich ein Haus an das nächste. Die meisten der nagelneuen Apartmentblocks haben vier oder sechs Stockwerke; das leuchtende Blau und Rot der Fassaden verleiht den Wohnsiedlungen ein jugendliches Flair. Zwischen den Häuserreihen sind gepflegte Gärten mit Spielplätzen angelegt.

Wenige Hundert Meter weiter haben die Stadtplaner eine internationale Schule errichten lassen. Die Wohnheime für die Schüler sind in warmen Pastelltönen gehalten – so kommt ein Hauch mediterranes Flair in das Reich der Mitte. Weiter westlich erhebt sich ein futuristischer Bau aus schräg versetzten weißen Quadern: das Dinosaurier-Museum der Stadt. Irgendwann mal haben amerikanische Archäologen in der Nähe ein paar Fossilien gefunden.

Keine Frage: Die Neustadt im Westen von Erenhot bietet ein gepflegtes Ambiente für Chinas kaufkräftige Mittelschicht. Nur eines fehlt: die Menschen. Nur wenige der gut 10 000 Wohnungen sind bewohnt. In kaum einem der Ladenlokale in den unteren Etagen hat sich ein Geschäft oder Restaurant niedergelassen. Überall hängen Plakate "Zu vermieten"; darunter mit Filzstift die Handynummern. Die Schulbänke bleiben die meiste Zeit leer. Das Museum hatte noch nie geöffnet. Dem Besucher begegnen keine Passanten, keine Radfahrer, keine Autos. Man hört keinen Lärm, keine Geräusche – die ganze Stadt ist wie tot.

Am Bedarf vorbei

Das neue Erenhot im äußersten Norden Chinas ist eine Geisterstadt, wie sie in den vergangenen Jahren im ganzen Land entstanden sind. Als 2008 die weltweite Krise auch das Riesenreich erfasste, drehten die Banken auf Geheiß der kommunistischen Führer in Peking den Geldhahn auf. Es galt, mit zusätzlichen Investitionen die schlimmsten Folgen der Turbulenzen zu bekämpfen. Umgerechnet gut eine Billion Euro an neuen Krediten händigten Chinas Banken 2009 aus, etwa doppelt so viel wie im Jahr zuvor. 2010 vergaben die Kreditinstitute Darlehen in ähnlichem Umfang. Dazu kam ein staatliches Konjunkturpaket mit einem Volumen von umgerechnet rund 400 Milliarden Euro.

Nicht alles Geld ist in unsinnige Projekte geflossen. So haben die Behörden etwa dafür gesorgt, dass abgelegene Regionen durch Bahnstrecken und Autobahnen erschlossen werden. Auch flossen große Summen in den Aufbau der Stromgewinnung aus erneuerbaren Energien. Doch in vielen Teilen Chinas haben Lokalpolitiker in Kumpanei mit örtlichen Unternehmern und Immobilienentwicklern Wohnsiedlungen, Messezentren, Flughäfen oder Museen völlig am Bedarf vorbei gebaut. Die niedrigen Kapitalkosten in China machten (und machen) es möglich. Viele Parteisekretäre und Bürgermeister in der Provinz wollen sich mit Leuchtturmprojekten schmücken und die Aufmerksamkeit der Parteispitze in Peking erregen.

In Erenhot etwa haben Funktionäre und Spekulanten neben dem eigentlichen Wüstenort kurzerhand eine neue Stadt hochgezogen. Erenhot ist eigentlich ein kleines Nest mit kaum 20 000 Einwohnern. Einen Miniboom erlebte die Region, als in den Neunzigerjahren die nur einen Steinwurf entfernte Grenze zur Mongolei geöffnet wurde. Zu Tausenden kamen die Nachbarn aus dem Norden angereist, um in China einzukaufen, was zu Hause knapp ist: Fernseher, Handys, Autobatterien, Jeans, Turnschuhe, Miniröcke. Immer mehr Kleinhändler aus dem Süden Chinas zogen daraufhin nach Erenhot, um am mongolischen Mangel zu verdienen. Die meisten blieben aber nur ein paar Jahre und gingen dann wieder zurück .

Auch Ling Li ist auf dem Absprung. Vor fünf Jahren ist die hochgewachsene 32-Jährige aus Zhejiang, einer Küstenprovinz in Südostchina, in das Wüstennest gekommen. Dort hat sie sich ein paar Quadratmeter im Wenzhou-Markt, einer mächtigen Halle in der Altstadt von Erenhot, gemietet und verkauft dort Röcke, Hüte und T-Shirts. Doch die Umsätze sinken. "Die Mongolen kommen nicht mehr", sagt die Händlerin, "sie fahren jetzt in größere Städte, nach Peking oder nach Tianjin." Wenn das Geschäft nicht bald wieder besser werde, "packe ich meine Sachen und haue ab", sagt Ling. Andere Händler erzählen Ähnliches.

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