Ägypten Die Moslembrüder versuchen den Aufschwung

Während Außenminister Westerwelle Ägypten besucht, eskaliert dort der Konflikt zwischen den alten Eliten und den Wahlsiegern von der Muslimbrüderschaft. Vom islamistischen Präsidenten Mursi ist eine pragmatische Wirtschaftspolitik zu erwarten.

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Ein Präsident zum Anfassen. Demonstration für Mursi Quelle: Laif

Deutschland sei "auf dem Weg zur Demokratie ein Partner des ägyptischen Volkes", sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle heute nach einem Treffen mit dem neuen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi in Kairo. Westerwelle, der erste westliche Außenminister, der den aus der islamistischen Moslembrüderschaft hervorgegangenen Präsidenten besuchte, wollte dies als "Signal für die demokratische Stabilität" in Ägypten verstanden wissen. Von demokratischer Stabilität ist das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt noch weit entfernt. Heute ist das von den Moslembrüdern dominierte Parlament erneut zusammengetreten, obwohl zuvor der Militärrat seine Auflösung verfügt hatte.

Dass das Volk hinter ihm, und nicht hinter den alten Machthabern im Militär steht, demonstriert Mursi vor einigen Tagen dort, wo im Januar 2011 die Facebook-Revolution gegen die Militärdiktatur begann. Auf dem Tahrir-Platz sprach hier seinen Amtseid vor Hunderttausenden frommen Ägyptern. Er brüskierte damit seine immer noch mächtigen Gegenspieler vom bisher alleine herrschenden Obersten Militärrat. Mursi hatte zwar im ersten Wahlgang bei etwas über 50 Prozent Wahlbeteiligung nur ein Viertel der abgegebenen Stimmen bekommen, doch er versicherte allen Ägyptern, er werde ihnen gleichermaßen dienen.

Doch Mursi steht nicht nur ein Machtkampf mit dem Militär bevor. Das Ausmaß der wirtschaftspolitischen Herausforderung, vor der Mursi steht, wurde dem Besucher dieser eindrucksvollen Massenkundgebung klar, wenn er sich die Etiketten der ägyptischen Fahnen, Mursi-Fan-Artikel und islamischen Devotionalien im Angebot der Straßenhändler näher anschaute: "Made in China". Wie übrigens auch auf den Hüten daneben mit aufgedrucktem Mursi-Porträt.

Ägypten, das unproduktive Land

Bis auf Lebensmittel stammt hier praktisch nichts aus dem eigenen Land. Und das nicht, weil die Fabrikation von derlei Krimskrams in Ägypten zu teuer wäre. Ungelernte ostasiatische Arbeiter verdienen heute viel mehr als ihre Kollegen im ägyptischen Nildelta. Ägypten, das lehrt die Jubelveranstaltung, ist einfach ein unproduktives Land. Und darum leistet das Fahnenmeer auf dem Tahrir-Platz einen kleinen Beitrag zum drohenden Staatsbankrott.

Wobei es erstaunlicherweise viele Ägypter auch außerhalb des frommen Lagers gibt, die sich vom Wahlsieg des erzkonservativen Islamisten Mursi die Wende erhoffen. Schon darum, weil jetzt politische Stabilität wenigstens möglich erscheint.

Die Kairoer Börse ist in Feststimmung: Um sieben Prozent stieg der maßgebliche Index einen Tag nach Verkündung des Wahlergebnisses, dann eine Woche lang noch um durchschnittlich drei Prozent pro Tag. Dass das vom Obersten Militärrat abhängige Verfassungsgericht wenige Tage vor Mursis Wahl das islamistisch beherrschte Parlament aufgelöst und den noch nicht gewählten Präsident weitgehend entmachtet hat, halten die Analysten überraschenderweise für ein positives Zeichen: Bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung und wahrscheinlich darüber hinaus gibt es eine Doppelherrschaft von islamistischem Präsidenten und autoritären Generälen – und beide Kräfte müssen sich miteinander arrangieren.

Der Präsident ist nicht machtlos

Kleiner Beitrag zum wirtschaftlichen Ruin. Ägyptische Fahnen made in China Quelle: dpa

Alles komme jetzt ins Lot, meint Ziad Akl, Kommentator der bei allen Umbrüchen stets regierungsfreundlichen Tageszeitung "Al Ahram": Solange Mursi regiere, werde der Militärrat weiter den ägyptischen "tiefen Staat" kontrollieren. Er meint damit das Gewebe von Armee, Bürokratie, Justiz, Polizei und Geheimdiensten. Gegen das unberechenbar gewordene Volk von den jungen Gebildeten der Revolution von 2011 bis hin zu den vielen bettelarmen Landarbeitern und Arbeitslosen brauche der "tiefe Staat" einen Verbündeten, und das seien jetzt Mursis Moslembrüder. "Genauso brauchen die Moslembrüder den Militärrat, und die ägyptische Szene bleibt weiter bipolar wie die ganze Zeit seit dem Sturz von Hosni Mubarak", sagt Akl.

Was aber auch bedeutet, dass der neue Präsident keineswegs so machtlos ist, wie es nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtes aussehen mag. "Der Oberste Militärrat wird eine neue Parlamentswahl nicht unendlich hinausschieben können", sagt der Ägypten-Fachmann Yezid Sayigh vom Carnegie Middle East Center in Beirut: "Die Generäle wollen eine Verfassung, die sie über alle zivilen Gewalten stellt, aber sie wollen auch ihre direkte Rolle in der Regierungsverantwortung loswerden."

Das gilt gerade auch für solche hohen Offiziere, die sich mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigen. Das sind gar nicht so wenige: Mindestens 15, nach Schätzungen bis zu 40 Prozent der ägyptischen Wirtschaftsleistung werden von Unternehmen erbracht, die im Besitz der Armee oder von Versorgungskassen der Offiziere sind – das reicht von Munitionsfabriken über Versicherungen bis zu Spielwarenherstellern. "Das sind zuverlässige Geschäftspartner", versichert der Geschäftsführer eines großen deutschen Unternehmens.

Tragikomödie um den Staatshaushalt

Es sind aber auch Unternehmen, deren Chefs ihren politischen Einfluss auch dazu genutzt haben, Wettbewerber vom Markt zu drängen und mit Wehrpflichtigen in der Belegschaft Betriebskosten zu minimalisieren. Eine Struktur, die Mursi und seine Mitarbeiter kaum aufbrechen werden. "Wollen sie vielleicht auch gar nicht", sagt ein ägyptischer Gesprächspartner, der seit Jahrzehnten für einen deutschen Arbeitgeber in Kairo arbeitet: "Die Moslembruderschaft hat ein ähnliches Wirtschaftsimperium aufgebaut, mit einem Kapitalwert um die 400 Millionen Dollar. Jetzt werden sich die beiden oligopolen Netze, Armee und Bruderschaft, miteinander arrangieren."

Die entsprechenden Absprachen finden wahrscheinlich hinter den Kulissen statt, weitab von der permanenten Volksversammlung auf dem Tahrir-Platz in den edlen Kairoer Vororten Heliopolis und Zamalek. Sichtbare Wirtschaftspolitik dagegen ist die Tragikomödie um den Staatshaushalt. Weil das ägyptische Haushaltsjahr immer am 1. Juli beginnt, wurde den Ägyptern gleichzeitig mit dem frisch gewählten Präsidenten auch das neue Budget präsentiert, ein Werk der vom Militär eingesetzten bisherigen Übergangsregierung, verabschiedet vom Obersten Militärrat, der bis auf Weiteres alle Befugnisse des aufgelösten Parlaments innehat.

Ein Haushalt von umgerechnet knapp 67 Milliarden Euro wäre eigentlich nicht zu umfangreich für ein Land mit annähernd 84 Millionen Einwohnern. Wäre da nicht das Budgetdefizit. Es beträgt katastrophale 10,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), vor allem darum, weil das ägyptische Steueraufkommen höchstens 15 Prozent des BIPs beträgt. Im Vergleich zu den ägyptischen Steueraufkommen sind wahrscheinlich sogar die griechischen extrem effizient.

Subventionen verschlingen Milliarden

Mühsamer Aufbruch in die Moderne. Landwirtschaft im Nildelta Quelle: Getty Images

"Unternehmen und Mitarbeiter bei uns im Land sind tüchtig – der Staatshaushalt ruiniert alles", sagt Emad Graiss, Geschäftsführer des Pharmakonzerns Merck Serono in Kairo. Die Zahlen geben ihm recht: Mehr als jeweils ein Viertel des Staatshaushaltes geht für die Gehälter des ineffizienten öffentlichen Dienstes und für Schuldendienst drauf. Und 14 Milliarden Euro verschlingen die Subventionen, mit denen schon Diktator Mubarak und dessen Vorgänger das Volk ruhigstellen wollten. 38 Prozent dieser Subventionen sorgen für spottbillige Grundnahrungsmittel, 62 Prozent für billiges Benzin und Heizöl.

"Nur 20 Prozent des Staatshaushalts sind theoretisch für neue politische Maßnahmen verfügbar", klagt der Ökonom Samir Radwan, Finanzminister während der ersten Revolutionsmonate 2011. Damals hat er sich mit der Forderung nach Subventionsabbau bei den Generälen unbeliebt gemacht.

Diese aber fürchten den Zorn der armen Leute, wenn das Brot unbezahlbar würde, und vielleicht noch mehr die Wut der unteren Mittelklasse in Kairo, falls das Benzin auf einmal teuer wird. In Euro umgerechnet kostet der Liter Normalbenzin derzeit 23 Cent.

Moslembruderschaft fordert Politik für die Ärmsten

"Die Lebensmittel- und Heizölsubventionen ersetzen die hier nicht existierende Sozialpolitik", erklärt Rainer Herret, Geschäftsführer der Deutsch-Arabischen Handelskammer in Kairo. Eine Rechtfertigung kann das nicht sein: Von den Benzinsubventionen profitieren nicht die Armen des Landes, sondern die städtische Mittelschicht und die oft dem Militärklüngel eng verbundenen Autoimporteure. Im neuen Haushalt haben die Beamten um Finanzminister Mumtaz al-Saeed wenigstens die Subventionierung von Superbenzin gekappt.

Umgerechnet drei Milliarden Euro soll das einsparen, aber nur, wenn die Autofahrer jetzt nicht auf das nach wie vor spottbillige Normalbenzin umsteigen. Was für die meisten kein Problem sein wird: Neue und gepflegte Autos gehobener Preisklassen, die sich nur mit Super betanken lassen, sind im chaotischen Kairoer Straßendschungel so selten wie Autofahrer, die sich an Verkehrsregeln halten.

Die Wirtschaftspolitiker aus Mursis Moslembruderschaft fordern in aller Regel Politik für die Ärmsten ihrer Landsleute. Jetzt ergreifen sie zur Abwechslung die Partei der Superbenzin-Verbraucher. Aschraf Badreddin, wirtschaftspolitischer Sprecher der Moslembrüder-Partei "Freiheit und Gerechtigkeit" (FJP), bezeichnet den neuen Staatshaushalt als "politisches Komplott" gegen den Staatspräsidenten Mursi, weil dem die Ägypter demnächst alle Missstände anlasten würden, die alleine der Militärrat verbockt hat.

Dabei müsste jeder Subventionsabbau den Moslembrüdern um Mursi eigentlich recht sein. Die FJP hatte im Wahlkampf ein Wirtschaftsprogramm vorgestellt, das zumindest teilweise den Vorschlägen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) für ein stagnierendes Schwellenland wie Ägypten entsprachen: Entwicklungsprogramme für die Landwirtschaft und Direktzahlungen an die Bauern statt subventionierten Preisen für Brot und Mehl, massive Investitionen in Bildung und Gesundheit, Straßen- und Eisenbahnausbau.

Mit Hilfen finanzielles Chaos kompensieren

Eine Straße in Kairo Quelle: dpa

All das wird jetzt mangels finanzieller Mittel ausbleiben, selbst wenn der IWF seine Ankündigung wahr macht, einen seit Monaten verhandelten Kredit über 3,2 Milliarden Dollar auszuzahlen, sobald in Kairo eine ordentliche Regierung am Ruder ist. Auch die reichen arabischen Nachbarn wollen ihre Hilfsversprechen aus dem Revolutionsjahr 2011 erst einlösen, wenn der IWF gezahlt hat: Gerade die Saudis haben aus politischen wie religiösen Gründen weder für die ägyptischen Generäle noch für Mursis Moslembrüder viel übrig. In Saudi-Arabien ist der lokale Ableger der Bruderschaft seit Langem verboten.

Schmerzgrenze erreicht. Wachstumsraten von Bruttoinlandsprodukt und Bevölkerung in Ägypten

Mit den neuen Hilfen aus dem Ausland könnte Ägypten das finanzielle Chaos zunächst einmal vermeiden. Das Ungleichgewicht der Handelsbilanz ließ sich 2011 nur kompensieren, indem der ägyptische Staat seine Devisenreserven von anfangs noch 36 Milliarden Dollar halbierte. Weil sich das nicht mehr lange fortsetzen lässt, könnte es schon in wenigen Monaten zu einer dramatischen Abwertung der Landeswährung, Kapitalflucht, starkem Zinsanstieg und unkontrollierbarer Inflation kommen. Es sei denn, die Regierenden in Kairo sorgen für das nötige Vertrauen von internationalen Kreditgebern und Investoren sowie einheimischen Unternehmern.

Das ist nicht ganz ausgeschlossen. Unter Ausländern, die im chaotischen Revolutionsjahr 2011 ausgeharrt haben, macht sich vorsichtiger Optimismus breit. "Der Tourismus hat sein tiefes Tal hinter sich, und die Industrieproduktion bewegt sich auf Normalniveau", sagt Kammergeschäftsführer Herret. Der Anlagenbauer Uhde Engineering zum Beispiel, Tochter von ThyssenKrupp, ist seit drei Jahrzehnten mit wachsendem Erfolg in Ägypten aktiv und baut Anlagen für die chemische Industrie.

Probleme mit dem Tourismus

Da besteht eine ständig wachsende Nachfrage: Unbeachtet von den Beobachtern der politischen Dramen in Kairo, hat sich entlang des Nils in den vergangenen Jahren eine florierende und moderne Landwirtschaft entwickelt, die Gemüse und Blumen, Kartoffeln und fertige Tiefkühl-Pommes nach Europa exportiert. Und diese Landwirtschaft braucht Düngemittel, die Ägypten heute noch zum großen Teil aus aller Welt importieren muss. Vom Ausbau der Landwirtschaft würden gerade Mursis treueste Anhänger in den Bauerndörfern profitieren. Und Förderung der Infrastruktur auf dem Land gehört zu den zentralen Forderungen der Moslembrüder.

Mit anderen Wirtschaftszweigen dagegen haben die Brüder ihre Probleme. Allen voran der Tourismus: Nichts hat weltliche Kritiker der frommen Ägypter in den vergangenen Monaten so erbost wie die unendlichen Debatten im inzwischen aufgelösten Parlament über die Frage, ob man Alkohol in Hotelbars und Bikinis an den Stränden verbieten solle, ob abgezäunte Sonderbadeplätze für sündiges Touristenvolk die Lösung wären oder die Umorientierung des Tourismus auf Glaubensbrüder von der arabischen Halbinsel. Alles folgenlos, und so wird es bleiben, erwartet der Top-Manager Graiss. "Mursi wird sich hüten, den Tourismus mit seinen acht Millionen Arbeitsplätzen zu sabotieren – wenn nicht, haben wir in zwei Jahren einen neuen Präsidenten!"

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