Ägypten Kaum Geld für den Neuanfang

Die Klüngelwirtschaft des alten Regimes hat Ägyptens Wirtschaft gelähmt. Dieses Hemmnis ist weggefallen. Doch dafür gibt es zwei neue: die Rechtsunsicherheit und der Mangel an finanziellen Mitteln.

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Wann kommen die Touristen wieder? Quelle: Laif

Ungewöhnliche Aussage an so einer Stelle: „Das tapfere ägyptische Volk hat Geschichte geschrieben: ein großer Moment für die Nation und eine historische Chance für die arabische Welt. Wir gratulieren und verneigen uns voller Respekt.“ Zu lesen ist das auf der Home-page der in Kairo residierenden Deutsch-Arabischen Industrie- und Handelskammer (DAIHK).

Aus dem Lob für das Gastland spricht Nervosität. Die Kehrseite der „historischen Chance“ sind gewaltige Risiken für einheimische und ausländische Unternehmen nach der Revolution am Nil. In den Tagen des Umsturzes im Januar und Februar war die Wirtschaft nahezu zum Stillstand gekommen. Die meisten europäischen Manager hatten das Land verlassen, einige haben sich bis heute nicht zurückgetraut. Aber selbst das lässt sich in der Rückschau auch positiv interpretieren: „In allen betroffenen Unternehmen haben die einheimischen Stellvertreter der Expats die Arbeit hervorragend fortgesetzt“, lobt Rainer Herret, Geschäftsführer der DAIHK.

Hemmnis Klüngelwirtschaft fällt weg

An hoch qualifizierten Betriebswirten und Ingenieuren besteht in Ägypten kein Mangel. Was bis heute fehlt, sind vernünftige Arbeitsmöglichkeiten für diese Leute – wegen der lähmenden Klüngelwirtschaft des alten Regimes. Dieses Hemmnis ist jetzt weggefallen, doch dafür gibt es zwei neue: Das eine ist die Rechtsunsicherheit in revolutionären Zeiten, das andere der Mangel an finanziellen Mitteln.

Seit dem Aufstand Anfang des Jahres und dem Sturz des Diktators Hosni Mubarak vor gut vier Monaten sind ausländische Investitionen so gut wie versiegt. Die wichtigsten Investoren – reiche Araber aus den Ölstaaten – haben keinerlei Sympathie für die mögliche Demokratisierung des bevölkerungsreichsten arabischen Landes. Entsprechend sind die ägyptischen Devisenreserven seit Jahresanfang um 25 Prozent zurückgegangen. Das ägyptische Finanzministerium hat seine Wachstumsprognose für dieses Jahr von fünf auf zwei Prozent reduziert. Das Institute of International Finance rechnet gar mit einem Rückgang des ägyptischen Bruttoinlandsprodukts von 2,5 Prozent in diesem Jahr, wahrscheinlich die realistischere Schätzung.

Hoffnung auf Hilfe

Bei ihrer relativ optimistischen Voraussage schauen die ägyptischen Fachleute auf die drei Hauptsäulen der Deviseneinnahmen ihres Landes:

- Der Schiffsverkehr auf dem Suezkanal war von den politischen Wirren überhaupt nicht betroffen. Im Gegenteil: Wegen der Zunahme des Exports aus Ostasien und Indien nach Europa haben die Frachtmengen und dementsprechend auch die Gebühreneinnahmen des ägyptischen Staates 2011 im Vorjahresvergleich um annähernd zehn Prozent zugenommen.

- Der Tourismus hat zwar einen katastrophalen Einbruch erlitten und dümpelt derzeit bei etwa 40 Prozent der Vorjahresbelegung der Hotels am Nil und in den Badeorten am Roten Meer. Jetzt, so heißt es aus Kairo, kann es nur noch aufwärts gehen: Dank erheblicher Rabatte haben die großen europäischen Reisekonzerne sich bewegen lassen, für das vierte Quartal dieses Jahres wieder ihre alten Kontingente zu buchen.

Mehr als zweieinhalb Jahre zwischen Schule und Beruf

- Auch die für die Zahlungsbilanz wichtigen Gastarbeitertransfers von Ägyptern aus den arabischen Erdölstaaten sollten nach Rechnung des Finanzministeriums in Kairo weiter steigen. Danach sieht es allerdings überhaupt nicht aus: Der Bürgerkrieg im Nachbarland Libyen hat vielmehr zu einem Gastarbeiterrückstrom mit erheblichen sozialen Problemen geführt. Und Saudi-Arabien hat gerade erst die Vergabe von Arbeitserlaubnissen an Ausländer erschwert; die Vereinigten Arabischen Emirate haben eine ähnliche Maßnahme angekündigt.

Ägypten verzeichnet heute nach offiziellen Angaben 16 Prozent Arbeitslosigkeit unter den 16- bis 29-Jährigen, und das liegt keineswegs nur an der mangelnden Ausbildung vieler junger Leute. Die brauchen nach dem Schulabschluss heute im Durchschnitt mehr als zweieinhalb Jahre, bis sie einen Arbeitsplatz finden, hat Azita Berar Awad von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) festgestellt – für Abiturienten und Hochschulabgänger dauert es noch länger.

Der Missstand liegt nach Meinung der ILO-Forscherin Awad an einer der vielen Fehlentwicklungen der ägyptischen Wirtschaft in der Mubarak-Zeit: Investitionen flossen vor allem in kapitalintensive Bereiche wie die Immobilienwirtschaft, arbeitsintensive Industrien wurden vernachlässigt. Dabei ist Ägypten ein Billiglohnland: Der staatliche Mindestlohn lag bisher bei 36 ägyptischen Pfund im Monat – umgerechnet kaum mehr als vier Euro, auch der Kaufkraft nach ein einstelliger Euro-Betrag.

Woraus eigentlich folgt, dass das Land ein vorzüglicher Standort für lohnintensive Exportindustrien sein könnte, selbst wenn die neu entstandenen unabhängigen Gewerkschaften jetzt Verdoppelungen und Verdreifachungen der bisherigen Löhne erzwingen. Wäre da nicht die Angst der ägyptischen Unternehmer und ausländischen Investoren vor chaotischen politischen Entwicklungen – oder vor einem Staat, der mit Rücksicht auf die Frustration der ägyptischen Massen die freie Wirtschaft in Fesseln zwingt.

Der ägyptische Finanzminister Quelle: REUTERS

„In Ägypten herrscht heute ein politisches Vakuum“, schreibt der amerikanische Nahostexperte und Buchautor Thomas Freedman nach einer Ägyptenreise: „Wenn das Land irgendwohin tendiert, dann ist es eine populistischere, weniger marktorientierte Wirtschaftspolitik.“ Marktwirtschaft haben die ägyptischen Revolutionäre nur in der korrumpierten Form der Mubarak-Herrschaft kennengelernt, das wirkt sich jetzt auf das öffentliche Klima aus.

Und so fühlt sich der Finanzmister Samir Mohamed Radwan in seinem Amt nach eigener Aussage „wie ein Gefangener“. Seine Übergangsregierung hat versprochen, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit 450 000 befristete Stellen im öffentlichen Dienst zu schaffen – Gerüchten zufolge haben sich daraufhin sieben Millionen Menschen beim Staat beworben, in einem Land mit knapp 52 Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter.

Populistische Politik

Der ägyptische Staat hat ganz einfach kein Geld, um die Erwartungen seiner Bürger zu erfüllen. Die Moslembrüder, nach den für September geplanten Parlamentswahlen womöglich bestimmende Kraft im Land, haben eine Lösung vorgeschlagen: Alle muslimischen Bürger sollen demnächst eine Zwangsabgabe von 7,5 Prozent ihres Einkommens an eine vom Staat beaufsichtigte Wohltätigkeitsorganisation zahlen – ganz im Einklang mit religiösen Vorschriften, aber mit unabsehbaren Folgen für eine große, aber zurückgebliebene Volkswirtschaft.

Die liberalen Gegner der Moslembrüder tun sich schwer mit Gegenvorstellungen. „Bei uns geht es nicht darum, den Staat zu reduzieren, wir müssen ihn effizient machen“, sagt Mohamed Menza von der neu gegründeten Partei Ägyptische Freiheit. Was aber auch ohne ausländische Hilfe schwierig wäre.

Entsprechend aufmerksam haben die Ägypter darum die finanziellen Versprechen des G8-Gipfels in Deauville Ende Mai registriert: 20 Milliarden Dollar versprechen die großen Industriestaaten als Aufbauhilfe für die neuen nordafrikanischen Demokratien.

Doch niemand weiß zu sagen, wie sich dieses Geld auf Ägypten und Tunesien verteilen soll, niemand kennt die Verteilung auf Geberländer und andere Institutionen. Das Finanzministerium in Kairo hat einen Bedarf von 8,5 Milliarden Dollar bis Mitte 2012 angemeldet – eine illusorische Forderung. Von der Weltbank ist nach Recherchen der Kairoer Zeitung „Al Ahram“ eine allgemeine Budgethilfe von einer Milliarde Dollar zu erwarten, eine weitere Milliarde im kommenden Jahr, falls es Reformfortschritte gibt. Außerdem verteilt über mehrere Jahre 2,5 Milliarden Dollar als Zuschuss zu Infrastrukturprojekten oder in Form von Krediten an die ägyptische Privatwirtschaft. Bis zum Jahr 2015 rechnet die Übergangsregierung insgesamt gar mit ausländischer Hilfe in Höhe von fast 23 Milliarden Dollar – eine Rechnung, die nur aufgehen kann, wenn vage Hilfszusagen aus China und Saudi-Arabien erfüllt werden.

Da muten die bisherigen offiziellen Hilfsankündigungen aus Berlin bescheiden an: Von insgesamt 130 Millionen Euro für Ägypten und Tunesien hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesprochen, wozu noch die Umwandlung von 300 Millionen Euro Staatsschulden kommen soll.

Wahrscheinlich gut investiertes Geld: Sollte eine zukünftige ägyptische Regierung die ausländischen Hilfen in große Infrastrukturprojekte lenken, vom Eisenbahnbau bis zur Modernisierung der medizinischen Versorgung, haben deutsche Unternehmen gute Chancen – wenn sie mit den anhaltenden Risiken des Landes leben können. Kammergeschäftsführer Herret rät jedenfalls zu: „Chaos ist hier Teil der Normalität und in der Revolution ganz besonders.“  

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