WirtschaftsWoche: Herr Gore, Sie haben analysiert, wie sich die Welt politisch ändert und prognostizieren: Die USA verlieren an Macht, Nationalstaaten an Gewicht. Fühlen Sie sich durch die Ukraine-Krise bestätigt?
Al Gore: Ich bin sehr besorgt über die Situation dort. Mir wäre es also lieber, ich läge falsch. Fakt ist: Russland testet seine Grenzen aus und bekommt wenig Gegenwind. Das Land sucht seine Rolle in einer Welt, in der die machtpolitischen Verhältnisse in Bewegung sind. Die USA im Westen und China im Osten sind feste Größen. Russland muss – so die nationale Sicht – aufholen. Es fühlt sich zu klein im Konzert der Großen. Die Ukraine ist da eine willkommene Spielwiese, da das Land innerlich zerrissen ist.
Wie lässt sich die Gewalt in der Ostukraine eindämmen?
Es geht nur über den Dialog. Dank der engen wirtschaftlichen Verflechtungen ist ja auch Russland unter Druck. Schauen Sie auf die Wirtschaftsdaten, schauen Sie auf den Sinkflug der russischen Aktienmärkte. Putin spielt ein gefährliches Spiel. Das muss man ihm klarmachen.
Die wichtigsten Stationen im Leben des Al Gore
Unter Bill Clinton war Al Gore acht Jahre lang - von 1993 bis 2001 - Vizepräsident der USA. Zuvor saß Gore für den Bundesstaat Tennessee im US-Senat.
Nach acht Jahren als Vizepräsident bewarb sich Gore im Jahr 2000 als Präsidentschaftskandidat der Demokraten um die Nachfolge Bill Clintons. Er gewann alle Vorwahlen und wurde einstimmig nominiert. Gore unterlag in der Präsidentenwahl am 7. November 2000 dem republikanischen Kandidaten George W. Bush. Zwar konnte Gore bundesweit 543.895 Stimmen mehr holen als sein Gegenkandidat. Die Ergebnisse der Einzelstaaten brachten jedoch Bush mehr Wählerstimmen und damit den Wahlsieg. Dabei war das entscheidende Ergebnis im Bundesstaat Florida umstritten.
Seit seinem Rückzug aus der Politik widmet sich Gore dem Schutz der Umwelt und dem Kampf gegen den Klimawandel. Er hält weltweit Vorträge zu diesem Thema. Daneben hat er das GLOBE-Programm gestartet und die Konzertreihe Live Earth initiiert. Neben seiner Tätigkeit für Generation Investment Management, einem Unternehmen für nachhaltiges, umweltverträgliches Investment, berät er verschiedene Unternehmen und sitzt u.a. im Aufsichtsrat von Apple.
Aus seiner Multimediapräsentation über die globale Erwärmung ist die Film-Dokumentation "Eine unbequeme Wahrheit" ("An Inconvenient Truth") hervorgegangen. Der Film erhielt einen Oscar und schärfte weltweit das Bewusstsein für den Klimawandel.
Für sein Engagement für den Klimaschutz wurde Al Gore 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Gore ist Autor zahlreicher Bücher, die zu internationalen Bestsellern wurden ("Wege zum Gleichgewicht", 1992; "Eine unbequeme Wahrheit", 2006; "Wir haben die Wahl", 2009). Am Montag erscheint sein neues Buch "Die Zukunft - Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern".
Wie bewerten Sie die Rolle Europas – in einem Konflikt, der direkt an den Außengrenzen der Europäischen Union stattfindet?
Europa steht in meinen Augen an der Schwelle zu einem historischen Niedergang von Macht, Einfluss und Zukunftsaussichten. Ausgangspunkt ist die Gründung der Euro-Zone, bei der es die führenden Politiker verpasst haben, die notwendige finanzpolitische Integration herbeizuführen. Aus diesem Versäumnis entwickelte sich eine schwerwiegende politische und wirtschaftliche Krise, die bis heute nicht gelöst ist. So ist es für mich keine Überraschung, dass Russland seine Macht austestet und Europa dem wenig entgegenzusetzen hat.
Wie lässt sich der Niedergang Europas abwenden?
Europa hat zwei Optionen: Es könnte zum einen das Scheitern des Euro-Zonen-Experiments einräumen und die Zahl der Länder deutlich verringern, die neben Deutschland und Frankreich in der Währungsunion bleiben. Das wäre teuer, für die, die ausscheiden würden. Es würde aber die Wirtschaftskraft und die Handlungsmöglichkeiten der verbliebenen Euro-Länder stärken.
Die zweite Option besteht aus einem raschen und mutigen Übergang zu einer wirklichen Union in Europa. Um in den 28 EU-Ländern zu einem vergleichbaren Lebensstandard zu kommen, müsste Deutschland dann aber massive Transferzahlungen leisten. Das scheint mir in absehbarer Zeit politisch nicht zu realisieren.