Al Gore im Interview „Europa steht vor einem historischen Niedergang“

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Privatsphäre der USA zu unwichtig

Die Europäische Union und die USA verhandeln über einen gemeinsamen Binnenmarkt. Könnte das Freihandelsabkommen „TTIP“ den Niedergang der USA und der EU abmildern?

Ich bin seit jeher ein Verfechter des Freihandels und würde es sehr begrüßen, wenn Europa und die USA einen gemeinsamen Binnenmarkt schaffen. Das würde auf beiden Seiten des Atlantiks viele Jobs schaffen und ein bisschen den Verlust der Arbeitsplätze kompensieren, die durch den Einsatz von Maschinen und Robotern sowie durch die Verlagerung der Jobs nach Osten verloren gegangen sind. Ich fordere aber auch, dass bei solch einem Abkommen Standards formuliert werden, vor allem in der Landwirtschaft und beim Klimaschutz.

Die zehn größten politischen Risiken
Unruhen in der TürkeiDie Türkei ist verletzlich. Proteste, Korruption und der Bürgerkrieg im Nachbarstaat Syrien destabilisieren das Land unter Premierminister Recep Tayyip Erdogan. Der wehrt sich nach Kräften gegen die Opposition - sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei. Erdogan schreckt auch nicht davor zurück, die Bürgerrechte einzuschränken. Zuletzt sperrte er den Kurznachrichtendienst Twitter.Quelle: Der Politologe Ian Bremmer hat die zehn größten Gefahren für das aktuelle Jahr zusammengestellt. Quelle: REUTERS
Wladimir PutinRusslands Präsident Wladimir Putin ist der mächtigste Herrscher der Welt in einem der wichtigsten Länder der Welt. Doch die russische Wirtschaft stagniert. Das geht zulasten seiner Popularität - und macht Putin noch unberechenbarer. In der Ukraine-Krise lässt er seine Muskeln spiegeln. Erst annektierte er die Krim, nun greift er nach der Ostukraine. Putin droht einen Flächenbrand zu entfachen. Quelle: AP
Unruhen im Nahen OstenSeit dem arabischen Frühling haben sich die Unruhen im Nahen Osten ausgebreitet. Nach Ägypten und Syrien droht jetzt auch der Irak in blutige Auseinandersetzungen abzurutschen. Der Einfluss des Nachbars Iran wächst - sehr zum Ärger des regionalen Rivalen Saudi Arabien. Dazu kommen die Unsicherheit über die Rolle der USA in der Region, Irans Nuklearprogramm und die Situationen in Ägypten und Tunesien. Quelle: AP
Wiedersehen mit neuem FokusZuerst die gute Nachricht: Die USA sind sicherer vor Angriffen der Terror-Organisation Al Kaida geworden. das heißt jedoch nicht, dass die sunnitischen Extremisten von der Bildfläche verschwunden sind. Im Gegenteil. Die Organisation, zu der auch Osama bin Laden gehörte, profitiert von den Unruhen in der arabischen Welt. Die verhassten, westlichen Staaten haben großes Interesse an Stabilität in der Region. Genau an diesem Punkt sind sie verletzlich. Quelle: REUTERS
Kampf um die InternetvorherrschaftFrüher galt das Internet als weitgehend neutrale Zone, das von den Usern maßgeblich mitgestaltet wurde. Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden ist klar, wie stark sich Staaten in die Internetfreiheit einmischen. Ein Ende des Trends ist nicht abzusehen. Für Unternehmer ist das eine schlechte Nachricht. Denn Cyber-Sicherheit wird immer teuerer. Quelle: AP
Ölstaaten unter DruckSteigende Förderkapazitäten, erhöhter Preisdruck und harter Wettbewerb: Für Ölproduzenten wie Russland, Nigeria, Venezuela und Saudi Arabien wird 2014 ein schwieriges Jahr. Deren Volkswirtschaften dürften das zu spüren bekommen - und wie im Falle Russlands auch politischen Druck ausüben. Quelle: dpa
Gratwanderung in Iran2013 hat sich die Situation zwischen Iran und den USA entspannt. Die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Iran greifen und der Erfolg bei der Präsidentenwahl des als moderat geltenden Hassan Rouhani wurde vom Westen als positives Signal gewertet. Doch die Annäherung findet auf schmalem Grat statt. Erst die diesjährigen Verhandlungen über das iranische Atomprogramm werden zeigen, ob Stabilität und nukleare Sicherheit in der Region möglich sind. Quelle: AP

Die Gespräche werden überschattet durch die NSA-Affäre. Wie bewerten Sie die Überwachung der Bürger im Inland wie im Ausland durch die US-Regierung?

Die USA spionieren im großen Stil, nicht nur die NSA. Zollbeamte dürfen Dateien von privaten Computern kopieren – ohne jeden Verdacht. Die Regierung bezuschusst die Installation von Ortungskameras, die, auf Streifenwagen montiert, die Nummernschilder sämtlicher Autos fotografieren, die ihnen begegnen. Die Angst vor Terroranschlägen dient als scheinbar unanfechtbare Rechtfertigung für ein Maß an staatlicher Überwachung herangezogen, das noch vor wenigen Jahren die meisten Amerikaner schockiert hätte. 

Sie verwenden in Ihrem Buch gar den Begriff „Polizeistaat“.

Ich werfe den USA nicht vor, ein Polizeistaat zu sein. Ich sage lediglich, dass wir dabei sind, die Techniken so zu verfeinern, dass bei einem Missbrauch durchaus die Gefahr besteht, dass demokratische Länder zu Polizeistaaten mutieren könnten. Wir müssen genau hinschauen und aufpassen, dass die Privatsphäre der Menschen geachtet wird. Aber noch einmal: Wir sollten nicht panisch werden. Es gab in den USA viele Phasen, in denen führende Politiker versucht haben, Bürgerrechte massiv einzuschneiden. Das war unter Woodrow Wilson der Fall, der etwa die Rassentrennung im Militär wiedereinführte. Oder unter  dem US-Senator Joseph McCarthy, der im Kampf gegen den Kommunismus über die Stränge schlug. Auf all diese Zeiten folgte immer auch eine Phase der Verteidigung und der Erweiterung der Bürgerrechte. Ich sehe durchaus Tendenzen, dass dies auch dieses Mal der Fall ist.

Die Überwachungspraktiken der NSA

Das hört sich in Ihrem Buch ganz anders an. Da schreiben Sie, dass Sie dieses Mal skeptisch sind, dass es wieder einen Ausgleich gibt, dass die historische Regel nicht mehr gelten könnte.

Ich war skeptisch, als ich das Buch geschrieben habe. In den vergangenen Wochen aber mehrten sich die Anzeichen, dass es auch dieses Mal wieder einen Kreislauf geben könnte – und die Einschnitte der Bürgerrechte eingedämmt werden. Es gibt im US-Kongress sowohl von republikanischen, als auch von demokratischen Politikern Appelle, die Überwachung der Bürger einzuschränken. Das sind ermutigende Zeichen. Meine Skepsis hat sich also ein bisschen gelegt. 

Lassen Sie uns abschließend noch über den Klimawandel sprechen: Die globalen Treibhausgase steigen weiter. Was ist zu tun?

Wir müssen den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Welt beschleunigen. Um das zu schaffen, schlage ich vor, eine wie auch immer geartete CO2-Steuer einzuführen, die den für die globale Erderwärmung verantwortlichen Treibhausgasemissionen einen angemessenen Marktpreis zuweist. Gekoppelt werden sollte das mit niedrigen Grenzwerten für die Emissionen.

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