„Allgegenwärtiges Klima der Angst“ Die Türkei bleibt im Ausnahmezustand

Recep Tayyip Erdogan lässt sich durch den knappen Ausgang des Verfassungsreferendums nicht beirren. Die OSZE-Wahlbeobachter verhöhnt er. Mit der Verlängerung des Ausnahmezustandes behält er das Land im Griff.

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Der türkische Präsident überbrückt die Zeit bis zum Inkrafttreten der neuen Verfassung mit einer Verlängerung des Ausnahmeszustandes. Quelle: AP

Athen Wenn das Volk erst einmal Ja gesagt habe zu Erdogans neuem Präsidialsystem, werde die Türkei in ruhigeres Fahrwasser kommen, versprachen die Befürworter der Verfassungsänderung vor dem Referendum. Die Zeichen deuten bisher allerdings nicht auf eine Normalisierung. Erdogans erster Schritt nach dem knappen Sieg: Er berief am Montagabend nacheinander den Nationalen Sicherheitsrat und das Kabinett unter seinem Vorsitz ein. Die Gremien beschlossen eine weitere Verlängerung des Ausnahmezustandes. Er hatte nach dem Putschversuch vom Juli 2016 begonnen und war seither bereits zwei Mal um jeweils drei Monate ausgedehnt worden.

Ohne die Verlängerung wäre er am Mittwoch ausgelaufen. Wenn das Parlament jetzt im Eilverfahren zustimmt, woran kein Zweifel besteht, werden die Regelungen um weitere drei Monate verlängert. Erdogan hat bereits angekündigt, man werde sie „so lange wie nötig“ beibehalten. Das kann dauern: In den mehrheitlich kurdischen Südostprovinzen galt der Ausnahmezustand bis Ende 2002 jahrelang.

Erdogan sichert der Ausnahmezustand viele Befugnisse, die er unter der neuen, spätestens im November 2019 in Kraft tretenden Verfassung auch ganz regulär haben wird. So kann er Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, nach der künftigen Verfassung sogar am Parlament vorbei.

Dass der Wahlkampf und das Verfassungsreferendum unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes stattfanden, hat für viel Kritik gesorgt, bei türkischen Bürgerrechtlern ebenso wie bei den Wahlbeobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Tatsächlich sind im Ausnahmezustand zahlreiche Grundrechte stark eingeschränkt.

Versammlungen und Demonstrationen können verboten, Ausgangssperren verhängt werden. Sicherheitskräfte dürfen Personen, Fahrzeuge und Wohnungen nach Gutdünken durchsuchen und mutmaßliche Beweismittel beschlagnahmen. Der Verkehr zu Land, See und Luft kann kontrolliert oder verboten, bestimmte Regionen können zu Sperrgebieten erklärt werden. Druckerzeugnisse, Radio- und Fernsehsendungen können zensiert oder ganz verboten werden. Die Menschenrechtskonvention des Europarats bleibt für die Dauer des Ausnahmezustands ausgesetzt.

Einschneidende Beschränkungen ihrer Rechte bedeutet der Ausnahmezustand für Beschuldigte: Sie können bis zu 30 Tage ohne richterlichen Beschluss in Gewahrsam gehalten werden.


Erdogan über OSZE-Beobachter: „Ihr solltet eure Grenzen kennen“

Kontakt zu einem Anwalt ist frühestens nach fünf Tagen möglich. Das begünstigt nach Meinung von Menschenrechtsorganisationen Übergriffe: Mit dem Ausnahmezustand habe die Türkei den Schutz von Gefangenen vor Misshandlung und Folter de facto aufgehoben, kritisierte Human Rights Watch bereits im Oktober 2016. Die Organisation spricht von einem „Blankoscheck“ für die Sicherheitsbehörden, „Inhaftierte zu foltern und zu misshandeln, wie sie wollen.“ Es herrsche ein „allgegenwärtiges Klima der Angst“, in dem auch Anwälte und Aktivisten Furcht davor hätten, als Nächste verhaftet zu werden.

Bereits im Oktober 2016, nach den drei ersten Monaten des Ausnahmezustandes, dokumentierte Human Rights Watch in ihrem Bericht 13 Fälle von Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International stellte „einen generellen Rückfall in die Praxis des Folterns“ fest. Mühsame Verbesserungen der Menschenrechtslage in der Türkei seien „über Nacht auf den Kopf gestellt“ worden.

Deutliche Kritik an dem Ausnahmezustand übte auch die Venedig-Kommission des Europarats, die Verfassungsfragen in den Mitgliedsländern prüft. Die unter dem Ausnahmezustand per Dekret verfügte Entlassung von über 100.000 Staatsbeamten und die Schließung von über 2000 Schulen, Stiftungen, Vereinen sowie Gewerkschaften widerspreche dem temporären Charakter von Notstandsmaßnahmen, heißt es in einem Bericht der Kommission.

Auch seien per Dekret strukturelle Änderungen verfügt worden, welche kaum rückgängig gemacht werden könnten – was im Widerspruch zu Sinn und Zweck des Ausnahmezustandes stehe. Dies betreffe vor allem einschneidende Änderungen der Strafprozessordnung. „Diese Verstetigung außerordentlicher Maßnahmen stellt aus Sicht der Venedig-Kommission eine Gefahr für die Demokratie, die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit dar“, heißt es in dem Bericht.

Auch die Wahlbeobachter der OSZE rügten am Montag, wegen des Ausnahmezustandes habe das Verfassungsreferendum unter „ungleichen Bedingungen“ stattgefunden. Grundfreiheiten wie das Versammlungsrecht, „die für einen demokratischen Prozess wesentlich sind“, seien eingeschränkt worden.

Erdogan zeigte sich von dieser Kritik unbeeindruckt. „Da gibt es eine Organisation namens OSZE in Europa“, höhnte Erdogan am Montagabend vor Anhängern in Ankara. „Die bereiten jetzt einen Bericht über Wahlen in der Türkei vor“, so Erdogan. An die Wahlbeobachter gerichtet sagte der Präsident: „Ihr solltet eure Grenzen kennen! Wir werden Euren Bericht weder lesen oder zur Kenntnis nehmen – wir gehen unseren Weg.“

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