Altkanzler Schröder für Flüchtlings-Amnestie „Wer hier ist, soll bleiben und arbeiten dürfen“

Gerhard Schröder fordert einen pragmatischen Umgang mit Flüchtlingen. Diejenigen, die schon in Deutschland sind, sollen schneller eine Arbeitserlaubnis bekommen. Eine Idee, die schon Ronald Reagan erfolgreich umsetzte.

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Um die Flüchtlingskrise zu bewältigen, schlägt Gerhard Schröder vor, die Flüchtlinge früher arbeiten zu lassen. Quelle: AFP

San Francisco „Ja, unsere Grenzen sind außer Kontrolle. (…) Ich glaube an die Amnestie für die, die hier Wurzeln geschlagen und ihr Leben aufgebaut haben, selbst wenn sie irgendwann einmal illegal hier eingewandert sind.“ Ein starkes Bekenntnis, ausgesprochen am 21. Oktober 1984 von niemand anderem als US-Präsident Ronald Reagan.

Noch heute gilt er als konservativster aller konservativen US-Präsidenten, Lieblingspräsident seiner Partei, die sich noch heute oft fragt: „Was hätte Reagan gemacht?“ Reagan gewann damals die Wahl gegen den Demokraten Walter Mondale und Ende 1986 unterzeichnete er ein Gesetz, das die amerikanische Einwanderungspolitik für immer änderte.

Der „Simpson-Mazzoli Immigration Reform and Control Act of 1986“ gewährte vier Millionen Einwanderern die Chance, aus dem Schatten der Illegalität zu treten und US-Staatsbürger zu werden. Voraussetzung: Sie mussten straffrei bleiben und Englisch lernen. Nach 18 Monaten bekamen sie das Recht, sich für eine Greencard, die ultimative Chance auf Einbürgerung, zu bewerben.

Auch Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) schlug vor wenigen Tagen vor, pragmatisch in der Flüchtlingskrise zu verfahren. Jeder Flüchtling, der sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in Deutschland aufhalte, solle ungeachtet der Frage, ob sein Asylverfahren abgeschlossen sei, hier bleiben und arbeiten können, regte Schröder auf einer Handelsblatt-Veranstaltung in Düsseldorf an.

„Eines der wichtigsten Probleme ist ja, dass wir die Leute, obwohl wir Arbeit hätten, nicht in Arbeit kriegen“, sagte der Altkanzler. „Wir haben fast eine Million, deren Asylanträge nicht entschieden sind, weil das Amt immer noch chronisch unterbesetzt ist.“ Schröder fragte: „Was hindert uns, eine Stichtagsregelung zu machen: Wer hier ist, bleibt - und kann auch arbeiten? Dann hätte man erst einmal den Druck weg, dass die Leute in den Erstaufnahmeeinrichtungen sind und sich nicht vernünftig beschäftigen können.“

In den USA wurden nach dem Immigrationsgesetz von 1986 Millionen Menschen aus einem Leben in Armut und Unterdrückung befreit. Einwanderer, die für skrupellose Arbeitgeber zu Hungerlöhnen auf Feldern und in Fabriken unter menschenunwürdigen Bedingungen schufteten und sich nicht wehren konnten, weil sie die Ausweisung riskiert hätten. Diesen Missstand prangerte Ronald Reagan öffentlich an.

Damals, in den 1980er -Jahren, galt Einwanderung in den USA noch als mutiger, riskanter Schritt eines Menschen, der Bewunderung verdient. Der Sänger Neil Diamond, wie Reagan eine Ikone der Konservativen, rührte 1980 mit dem Lied „Coming to America“ eine Nation zu Tränen - eine Nation, die stolz darauf war, ein Einwanderungsland zu sein. Der Refrain des Songs: „On the boats and on the planes they coming to America - Got a dream to take them there - They're coming to America - Got a dream they've come to share - They're coming to America”.


Neue Amnestie-Regelungen von Obama

Das Gesetz von 1986 sollte illegalen Einwanderern ermöglichen, einen klaren Schnitt zu machen und von vorne anzufangen. Die Integration gelang: Die meisten von ihnen sind zu steuerzahlenden Bürgern geworden, die den amerikanischen Traum träumen.

Das primäre Ziel von Reagans Gesetz wurde freilich nicht erreicht - den Einwanderungsstrom einzudämmen. Das sollte durch schärfere Grenzkontrollen und harte Sanktionen für Arbeitgeber, die Illegale beschäftigen, geschehen. Damals strömten täglich Tausende Menschen aus vielen lateinamerikanischen Staaten über die offene Grenze zwischen Mexiko und den USA in die Vereinigten Staaten.

Den USA gelang nicht, die Migration zu verringern, wie nicht nur Kritiker mittlerweile feststellen. Heute wird die Zahl der illegalen Einwanderer in den USA auf mindestens elf Millionen geschätzt - das ist weit mehr als 1986. Damals waren es erst rund sechs Millionen. Die meisten der Illegalen sind Mexikaner.

Rund fünf Prozent der amerikanischen Werktätigen haben keine Papiere. Die illegalen Einwanderer schuften auf Feldern, nähen Kleider in „Sweatshops“, spülen das Geschirr in Restaurantküchen in Chinatown oder dem lokalen Taco-Restaurant. Die Mehrheit der Illegalen lebt - so wird vermutet - in sechs Bundesstaaten: Kalifornien, Texas, Florida, New York, New Jersey und Illinois.
Wenn sie frei haben, findet man die in den USA illegal lebenden Männer oft in den einfachen „Dive-Bars“, den Eckkneipen der großen Städte, wo es ein Bier noch für drei Dollar gibt. In San Francisco liegen solche Kneipen im Mission District oder an der geschäftigen Geary Street. Einer der Stammgäste dort ist Pedro - so stellt er sich jedenfalls vor. Stundenlang hält der Mexikaner sich an einer Flasche Corona fest.

Pedro, der schon seit mehreren Jahren in San Francisco lebt, redet nicht viel. Ab und zu lächelt er einer der Barfrauen zu. Pedro wartet darauf, dass vielleicht ein Freund vorbeischaut. Viel Geld hat er nicht, aber „nach Hause“ will er auch nicht. Sein „Zuhause“ liegt im Stadtteil Tenderloin, einem sozialen Brennpunkt. Dort hat er ein Zimmer, oder vielmehr ein Bett. Acht Etagenbetten hat der Vermieter in das Zimmer hineingezwängt. Er stellt seinen Mietern keine Fragen, verlangt aber 500 Dollar im Monat.

Pedro überlegt jeden Tag, ob er sich um Papiere bemühen soll. Denn US-Präsident Barack Obama hatte 2015 eine Amnestie-Regelung für Illegale ausgeweitet. Bis zu fünf Millionen Menschen sollen eine auf drei Jahre begrenzte vorläufige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis bekommen. Obama knüpfte damit an eine Amnestie aus dem Jahr 2012 an, die Jugendliche - die als Kinder mit ihren Eltern illegal eingewandert waren - vor der Ausweisung schützte.

Sollte Pedro bei dem Programm mitmachen, könnte er einen Führerschein machen, Lieferwagen fahren und endlich legal Geld verdienen, sagt er zwischen zwei Schluck Bier.


Scharfe Töne im US-Wahlkampf

Doch gleichzeitig fürchtet der Mann, dass die Amnestie nicht von Dauer sein könnte. Republikanische Präsidentschaftsbewerber wie Donald Trump kündigten schon an, im Falle eines Wahlsiegs alle „Obama-Flüchtlinge“ rauszuwerfen, sollten sie die Wahl gewinnen. Trump erklärte sogar, er werde sofort alle elf Millionen Illegale ausweisen und eine riesige Mauer entlang der mexikanischen Grenze errichten. Zudem haben Gerichte bereits wichtige Teile des sogenannten „Dream Act“ von Obama verworfen. Die Offenheit gegenüber illegalen Einwanderern aus den 1980er-Jahren ist verschwunden, der Pioniergeist von Ronald Reagan ist Vergangenheit.

Eine Amnestie für Illegale ist in den UA umstritten. Kritiker argumentieren, diese Regelung habe noch mehr Flüchtlinge angelockt. Ähnlich wie die freundlichen Worte von Kanzlerin Angela Merkel und ihre Selfies mit Flüchtlingen, die per Internet in die Welt hinausgehen.

Ein Problem in den USA ist die steigende Zahl „legal-illegaler“ Einwanderer. Sie reisen mit einem Touristen- oder Studenten-Visum in die USA und bleiben dann nach Ablauf des Visums einfach da. Diese Gruppe soll fast die Hälfte aller Illegalen ausmachen. Vor allem wohlhabende Europäer, aber auch zunehmend Asiaten nutzen angeblich diese Art der relativ bequemen Wohlstands-Einwanderung und warten dann auf eine Amnestie.
Doch es gibt auch Anhänger der Amnestie. Befürworter argumentieren, dass die Integration illegaler Immigranten nichts mit einer Eindämmung der Flüchtlingszahlen zu tun habe. Schon Ronald Reagan rechnete 1984 nicht damit, dass sich die illegale Einwanderung aus Mittel- und Südamerika einfach stoppen ließe. „Solange die Wirtschaft dieser Länder den Menschen keine Perspektiven bietet, werden sie diesen Weg weiter wählen“, stellte er in einer TV-Debatte nüchtern fest.

Jüngste Zahlen scheinen dies zu bestätigen. Die Zahl der Mexikaner in den USA ist zuletzt gesunken, da es der mexikanischen Wirtschaft immer besser ging. Zwischen 2009 und 2014, so neueste Daten des Forschungsinstituts PEW, sind eine Million Mexikaner aus den USA in ihre Heimat zurückgekehrt und nur 870.000 eingewandert. Viele Mexikaner wollten zu ihren Familien zurückkehren, heißt es beim PEW.

Hier schließt sich der Kreis zu Gerhard Schröder und seinem Vorbild Ronald Reagan. Ein pragmatischer Umgang mit Flüchtlingen - ihnen die Möglichkeit zur Arbeit zu geben - verbessert die Lage der Migranten und fördert die Integration. Doch gleichzeitig sind Maßnahmen wie eine gezielte Wirtschaftsförderung in den Heimatländern der Einwanderern und stärkere Grenzkontrollen erforderlich, damit die illegale Einwanderung eingedämmt werden kann.

Zurück zu Reagan. Der populäre Präsident ist schon lange tot. Doch der amerikanische Geist der Offenheit gegenüber Flüchtlingen, den Reagan in den 1980er-Jahren vertrat, scheint auf den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders übergegangen zu sein. Sanders ist ein Sohn mittelloser Einwanderer. In einem einminütigen Werbespot zeichnet der Politiker die USA als ein Land, wie die ganze Welt es sich nach dem Zweiten Weltkrieg erträumt hatte: ein Land voller Hoffnung, in dem jeder Mensch eine Chance haben soll . Unterlegt mit der Hippie-Hymne „America“ von Simon & Garfunkel steht Sanders' Spot für Offenheit gegenüber Flüchtlingen. In dem Spot sind die Worte eingeblendet: „They‘ve all come to look for America“. Der Werbespot erfährt in den USA derzeit ungeahnten Zuspruch. Es ist ein Gegenbild zu jenem dunkleren Amerika, in dem Politiker Einwanderer als „Bimbos“ und „Vergewaltiger“ bezeichnen und hohe Mauern fordern.

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