„Altparteien“ gegen „Populisten“ Bitte Argumente statt Moral!

Das britische Referendum ist nur eines von vielen Anzeichen der Rückkehr scharfer innenpolitischer Gegensätze. Den alten Eliten fällt dazu nichts ein als Moralisierung. Das radikalisiert beide Seiten.

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Rechtspopulisten: Europa droht weitere Spaltung und Radikalisierung. Quelle: dpa, Montage

Bis vor gar nicht so langer Zeit schien es für Politiker in Deutschland und Europa nur um eines zu gehen: die Gegebenheiten zu verwalten. Die waren schließlich für alle zufriedenstellend. Man schien nach den Höllenfahrten der ersten Jahrhunderthälfte im ruhigen Fahrwasser einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) angekommen zu sein.

In Jahrzehnten des Friedens und wachsenden Wohlstands, gekrönt durch den gewaltlosen Zusammenbruch des Kommunismus, waren alte Feindschaften allmählich eingeschlafen. Bundestagsabgeordnete von den entgegen gesetzten Flügeln des hohen Hauses gingen bekanntlich schon zu Bonner Zeiten nach Ende der Debatten miteinander Pizza essen.

Es schien endgültig Vergangenheit zu sein, was nun wieder zurück ist: scharfe politische Gegensätze innerhalb der meisten europäischen Nationalstaaten aber auch auf Ebene der Europäischen Union. Der unversöhnliche Abstimmungskampf der Brexiteers gegen die Remainers in Großbritannien war nur ein besonders deutliches von zahlreichen Symptomen der Rückkehr von Politik als gesellschaftlicher Streit zwischen grundlegend verschiedenen Zukunftsvorstellungen. In fast allen europäischen Staaten gibt es neue politische Kräfte, Rechtspopulisten genannt, die sich gegen sämtliche „Altparteien“ (so die Sprachregelung der AfD) präsentieren.

In der nächsten Legislaturperiode, das kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wird wohl eine nicht geringe Zahl von Abgeordneten im Bundestag vertreten sein, mit denen die Mandatsträger der anderen Parteien vermutlich nicht beim gemeinsamen Pizza essen gesehen werden wollen. Parteipolitik, wie wir sie in Deutschland bislang kannten, nämlich als ein sportlich ausgetragener Wettbewerb um die Mitte, in dem grundlegende Richtungsentscheidungen nicht zur Wahl stehen, dürfte dann vorbei sein, wenn Frauke Petry, Alexander Gauland und Konsorten den Bundestag zur Bühne ihrer Grundsatzkritik am Kurs der – vermutlich auch dann wieder mit einer mehr oder weniger großen Koalition regierenden – Angela Merkel machen.

Wie konnte es so weit kommen?

Erziehungsauftrag gegen ungezogene Wähler

Das Narrativ, das die etablierten Parteien in Deutschland derzeit dazu erzählen, hat vor allem ein Ziel: Diese Frage gar nicht erst aufkommen zu lassen. Denn die Antwort hat selbstverständlich sehr viel mit den Schwächen und Fehlern der etablierten Parteien zu tun. Neue politische Bewegungen schießen üblicherweise nicht ohne Anlass und Grund aus dem Boden. Neue Parteien haben nur Erfolg, wenn sie eine Repräsentationslücke füllen können. Wenn sie unzufriedene Wähler an sich binden können, die von den anderen die Nase voll haben.

Die Namensgeberin der neuen deutschen Partei war indirekt Merkel selbst, die mit der Darstellung ihrer großkoalitionären Politik als „alternativlos“ zur Inkarnation des Konsens der etablierten Parteien wurde. Genau dieser Konsens der etablierten Parteien in den zentralen politischen Fragen – Bejahung der Globalisierung, die EU als „immer engere Union“, offene Grenzen für Einwanderer – musste letztlich den Widerspruch derer hervorbringen, die von den Folgen dieser angeblichen Alternativlosigkeiten nicht profitieren. Deren Interessen und Ängste waren beim großen Konsens zwischen die Räder gekommen.

Ohne das Einschwenken von Union und SPD auf einen einwanderungspolitischen Kurs, den wenige Jahre zuvor nur die Grünen verfolgten, und gegen den es im Bundestag keine nennenswerte Opposition gab, wäre die AfD wohl niemals zur dritt- oder viertstärksten Partei aufgestiegen. Auch die britischen Brexiteers erhielten übrigens Auftrieb durch Merkels Willkommenspolitik des Jahres 2015.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Die Reaktion der etablierten Politik ist der pure Trotz: Die Wahlergebnisse werden nicht als Mahnung akzeptiert, die Interessen der verlorenen Klientel wieder wahrzunehmen, sondern als Erziehungsauftrag interpretiert. Man glaubt in den etablierten Parteien, die Menschen besser „mitnehmen“ zu müssen, sie über die wohlmeinenden Ziele unterrichten, aufklären zu müssen. Man glaubt sie also wie aufsässige Schulkinder behandeln zu müssen: Du hast es nicht verstanden, komm, ich erklär’s dir nochmal.

Und wenn die ungezogenen Gören doch was anderes tun, als was Mutti sagt? Dann heißt es: Pfui!

Aber erwachsene Bürger sind keine Kinder und lassen sich in der Regel noch weniger erziehen. Vor allem wenn es um ihre handfesten und realen Interessen geht, ersetzt Moral keine Argumente. Ein Investmentbanker hat natürlich nichts von gering qualifizierten Einwanderern zu befürchten, aber den gering qualifizierten Einheimischen (ob deutscher Herkunft oder nicht) kann keine Willkommenskultur darüber hinwegtäuschen, dass da vor allem Konkurrenten für ihn willkommen geheißen werden. Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, und letztlich auch Konkurrenten auf dem großen Markt der sozialpolitischen Aufmerksamkeit.

Großbritannien und die EU - eine schwierige Beziehung

Carl Schmitt würde diebisch grinsen, könnte er noch miterleben, was sich derzeit tut in den Korridoren der Macht. Ausgerechnet Leute wie Gabriel und Maas, die mit dem dunklen Denker der Feindschaft sicher nicht in einem Atemzug genannt werden wollen, haben nun ganz in Schmittscher Manier einen Feind ausgemacht und als solchen benannt: Das „Pack“ von Pegida und eine AfD, die Gabriel explizit mit den Nationalsozialisten vergleicht. Der SPD-Vorsitzende fühlt sich für solche Vergleiche besonders kompetent, denn er kenne die AfD-Parolen von seinem verstorbenen Vater „und der war ein unverbesserlicher Nazi“.

Die etablierte Politik antwortet also auf die Herausforderung der neuen Konkurrenz mit Moralisierung und befördert damit eine Radikalisierung und Freisetzung von Aggressionen auf allen Seiten. Wer zum Aussätzigen erklärt wird, hat nur noch die Wahl zwischen reuiger Unterwerfung oder: „Jetzt erst recht“.

Aus Gegnern werden Feinde

Politisches Moralisieren ist bequem. Es ist die einfachste Antwort von Mächtigen, die durch uneingestandene eigene Fehler und Schwächen zu empfindlich geworden sind, um offene Kritik ertragen zu können. Und das in einer Situation, wo sie es am nötigsten hätten.

Moralisieren erspart langes und gründliches Nachdenken über die langfristigen Folgen kurzfristiger Entscheidungen ebenso wie das Abwägen und Austarieren der Interessen. Auch in Brüssel und Berlin gibt es wohl manchen Europa-Politiker der sich nun sogar freut, dass Großbritannien bald nicht mehr zur EU gehören wird. Schließlich gehörten die weitestgehend moralbefreiten und nutzenorientierten Verhandlungen mit Großbritannien zu ihren unangenehmsten Dienstpflichten.

Moralisieren dagegen schafft klare Verhältnisse: Wir sind die Guten, die anderen sind die Bösen. Das macht die Lage übersichtlicher und schließt die eigenen Reihen.

Der Nachteil: Aus Gegnern mit anderen Interessen werden unversöhnliche Feinde. Es gehört zu den wunderbaren zivilisatorischen Errungenschaften Europas (nicht erst der EU!) und besonders der Briten, durch die repräsentative Demokratie und den Rechtsstaat die Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, dass aus innenpolitischen Interessengegensätzen nicht Feindschaften werden müssen. Denn von da ist es nicht mehr sehr weit zur nächsten Eskalationsstufe: zum Bürgerkrieg. Die europäischen Nationen haben alle solche dunklen Epochen in ihrer Geschichte hinter sich. Unsere Nachbarn in der islamischen Welt und Afrika stecken gerade mitten drin.

Die wohl wichtigste Voraussetzung dafür, dass aus politischen Gegnern keine Feinde werden, ist allerdings, dass sich die Kontrahenten nicht gegenseitig als „Böse“ betrachten.

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