Amnesty kritisiert Türkei „Glaubwürdige Hinweise“ auf Fälle von Folter

Der türkische Staatspräsident Erdogan greift per Dekret hart durch – zum Schutz der Demokratie, wie die Regierung des Landes betont. Kritiker sehen dahinter allerdings „die größte Hexenjagd“ in der türkischen Geschichte.

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Kritiker wie der Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, werfen Erdogan „die größte Hexenjagd in der Geschichte der Republik“ vor. Quelle: AP

Amnesty International hat nach eigenen Angaben „glaubwürdige Hinweise“ auf Misshandlungen und sogar Folter von festgenommenen Verdächtigen in der Türkei. Die Menschenrechtsorganisation forderte die Türkei am Sonntag auf, unabhängigen Beobachtern Zugang zu allen Einrichtungen zu gewähren, in denen die mehr als 13.000 Verdächtigen festgehalten würden. „Berichte von Misshandlungen inklusive Schlägen und Vergewaltigung in Polizeigewahrsam sind extrem alarmierend“, sagte Europa-Direktor John Dalhuisen nach einer am Sonntag verbreiteten Mitteilung. Die Regierung müsse diese „abscheulichen Praktiken“ sofort stoppen.

Amnesty kritisierte das am Samstag erlassene Dekret von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der erste Erlass unter dem am Donnerstag verhängten Ausnahmezustand erlaubt unter anderem, dass Behördenvertreter bei Treffen von Verdächtigen und Anwälten anwesend sein und diese in Ton- oder Videoaufnahmen aufnehmen dürfen. Dokumente, die zwischen Festgenommenen und Anwälten ausgetauscht werden, können beschlagnahmt werden. Amnesty bemängelte, damit werde das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren unterlaufen.

Die Organisation teilte mit, sie habe mit Anwälten, Ärzten und einem Diensthabenden an einem Ort gesprochen, wo Festgenommene festgehalten würden. Ihr lägen mehrere Berichte vor, wonach Verdächtige an „inoffiziellen Orten“ wie Sportzentren oder in einem Stall gehalten würden. Nach diesen Berichten habe die Polizei Festgenommenem unter anderem Essen, Wasser und medizinische Behandlung verweigert. Polizisten hätten Verdächtige demnach „Schlägen und Folter unterworfen, inklusive Vergewaltigung und sexuelle Nötigung“.

Schlüsselstaat Türkei

In Istanbul hängen seit dem Putschversuch zwar an jeder Straßenecke Plakate mit dem Schriftzug „Hakimiyet Milletindir“. Das lässt sich in etwa mit „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ übersetzen, wie es auch im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert ist. Tatsächlich liegt unter dem Ausnahmezustand in der Türkei aber so gut wie alle Macht bei Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Am Wochenende machte Erdogan erstmals von dem Recht Gebrauch, per Dekret durchzugreifen.

Mehr als 13.000 Menschen sind seit dem Putschversuch festgenommen worden. Erdogan verfügte nun, dass Verdächtige bis zu 30 Tage in Polizeigewahrsam gehalten werden können, bislang mussten sie binnen vier Tagen einem Haftrichter vorgeführt werden. Allerdings dürfte derzeit ein eklatanter Mangel an Richtern und Staatsanwälten herrschen, von denen mehr als 1500 selber in Untersuchungshaft sitzen. Sie gehören zu den insgesamt fast 6000 Verdächtigen, gegen die im Zusammenhang mit dem Umsturzversuch Haftbefehl erlassen wurde.

Ihnen werden Verbindungen zum Prediger Fethullah Gülen vorgeworfen, aus Sicht Erdogans der Drahtzieher des Putschversuches. Sogar seine eigene Präsidentengarde hält Erdogan offenbar für unterwandert, fast 300 ihrer Soldaten wurden festgenommen. Ministerpräsident Binali Yildirim kündigte die Auflösung der gesamten Elite-Einheit an.

"Blutvergießen in der Türkei muss ein Ende haben"
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: dpa
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Quelle: AP
Europaparlaments-Präsident Martin Schulz Quelle: dpa
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat sich „zutiefst beunruhigt“ über den Putschversuch in der Türkei geäußert. „Alle Versuche, die demokratische Grundordnung der Türkei mit Gewalt zu verändern, verurteile ich auf das Schärfste“, sagte Steinmeier in einer ersten offiziellen Reaktion am Samstag in Berlin. Quelle: dpa
Angela Merkel geht in Ulan Bator beim Asien-Europa-Gipfel zusammen mit Regierungssprecher Steffen Seibert zu einer Sitzung. Quelle: dpa
Außenminister Frank-Walter Steinmeier Quelle: dpa
türkische Soldaten am Taksim-Platz in der Nacht zu Samstag Quelle: dpa

Erdogan lässt zudem mehr als 2300 Einrichtungen schließen, die aus Sicht der Regierung zum Gülen-Netzwerk gehören, darunter mehr als 1000 private Schulen. Mehr als 45.000 Staatsbedienstete wurden bislang suspendiert. Wem Verbindungen zu Gülen nachgewiesen werden, der hat per Dekret keine Chance auf Rückkehr in den öffentlichen Dienst. 21.000 Lehrern an Privatschulen wurde die Lizenz entzogen. Nur Stunden nach Verhängung des Ausnahmezustands am Donnerstag setzte die Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention teilweise außer Kraft. Sendelizenzen werden entzogen, Webseiten gesperrt.

Aus Sicht der Regierung sind das alles notwendige Maßnahmen, um „Metastasen“ (Erdogan) aus dem Staatsapparat zu entfernen. Beweise dafür, dass Gülen hinter dem Putschversuch aus Teilen des Militärs steckt, bleibt die Regierung bislang aber schuldig - sie verweist auf die kommenden Gerichtsprozesse. Unabhängig vom Umsturzversuch und dem harten Vorgehen hat die Unterwanderung aber einen realen Hintergrund.

Bereits in den 1990er Jahren begann die Gülen-Bewegung damit, ihre oft gut ausgebildeten Leute in staatlichen Stellen zu installieren. Lange Zeit waren Gülen und Erdogan Verbündete, Gülen-Anhänger ebneten Erdogan den Weg an die Macht. Westliche Sicherheitsexperten schätzen, dass zeitweise weit mehr als die Hälfte der Polizisten in der Türkei Verbindungen zur Gülen-Bewegung hatten.

In der Justiz stellten bislang auch Erdogan-kritische Juristen den Einfluss Gülens nicht in Frage. Und schon 2014 - im Jahr nach dem offenen Zerwürfnis zwischen Erdogan und Gülen - gab es Medienberichte über Spannungen zwischen Regierung und Armeeführung wegen einer Unterwanderung auch der Streitkräfte.

Lücken sollen schnell geschlossen werden



Der türkische EU-Minister Ömer Celik nennt Gülen gefährlicher als den vor fünf Jahren getöteten Al-Kaida-Chef Osama bin Laden, die Bewegung des Predigers gefährlicher als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Celik sagt nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, Ziel des Ausnahmezustands sei es, „die Demokratie zu schützen, den Rechtsstaat zu schützen, die Rechte und Freiheiten unserer Bürger zu schützen und den Frieden in unserem Land zu schützen“.

Die Regierung in Ankara fühlt sich zutiefst missverstanden von der EU, in der angesichts des harten Vorgehens Erdogans die Rufe nach einem Ende des Beitrittsprozesses lauter werden. Mit jedem Tag vertieft sich der Graben zwischen Europa und der Türkei. Und mit jedem Tag verschärft sich die Polarisierung in der Türkei.

Kritiker wie der Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, werfen Erdogan „die größte Hexenjagd in der Geschichte der Republik“ vor. Dündar hält sich derzeit in Europa auf und dürfte sich hüten zurückzukehren, er befürchtet seine Festnahme. Der Journalist fragt in einem Gastbeitrag für den britischen „Guardian“: „Wir sind von einem Militärputsch befreit, aber wer schützt uns vor einem Polizeistaat?“ Dündar appelliert an die EU, nicht erneut die Augen zu verschließen, sondern Partei „für eine moderne Türkei“ zu ergreifen.

Ministerpräsident Yildirim kündigte am Freitag an: „Es ist nun die Zeit der Säuberung.“ Welche Auswirkungen die Maßnahmen haben werden, ist noch gar nicht abzusehen. Wie sollen diejenigen, die ihre Jobs verlieren, ihre Familien ernähren? Wer wird Kinder an den betroffenen Schulen nach den Sommerferien unterrichten? Werden die vielen Terroranschläge nun noch zunehmen, wenn die Sicherheitskräfte durch Massenfestnahmen und Suspendierungen geschwächt sind?

Angesichts der dramatischen Entwicklung gerät fast in Vergessenheit, dass im Südosten der Türkei bereits lange vor dem Putschversuch bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Die Armee ging mit einer Offensive gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vor. Vor allem zuständig dafür war der Kommandeur der Zweiten Armee, Vier-Sterne-General Adem Huduti. Huduti gehört zu 123 Generälen, gegen die wegen des Putschversuches Haftbefehl erlassen wurde.

Damit sitzt mehr als ein Drittel der Generäle des Nato-Partners Türkei – an dessen Südgrenze die Terrormiliz IS ihr Unwesen treibt – derzeit in Untersuchungshaft. „Keiner kann behaupten, dass die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte nicht geschwächt ist“, sagt ein Offizier eines westlichen Nato-Staates, der die türkische Armee gut kennt. „Das hat eklatante Auswirkungen.“

"Dieses Jahr ist die reinste Katastrophe"
Vor der Wassersportanlage an der türkischen Riviera dümpeln zwei Jetski und Motorboote im türkisblauen Wasser. Die Leere hat sich manch ein Tourist vielleicht schon mal gewünscht, der sich bei 32 Grad mitten in der Hochsaison ein Plätzchen auf der Liege neben Hunderten anderen sichern musste. Verlassene Strände sind in diesem Jahr traurige Wirklichkeit in der Türkei. Das Land kommt nicht zur Ruhe: Auf Terroranschläge folgte ein Putschversuch – und nun auch noch der Ausnahmezustand. Pralle Sonne, stahlblauer Himmel, funkelndes Meer und gewaltige Berge: Weder die perfekte Urlaubskulisse noch die günstigen Preise oder der gute Service in den Hotels am Mittelmeer können so viele Touristen nach Antalya locken wie in den vergangenen Jahren. Quelle: dpa
Mehmet Tekerek am türkischen Strand Quelle: dpa
Konyaalti Quelle: dpa
Nur wenige Menschen bevölkern den Strand Konyaalti in Antalya. Quelle: dpa
Die Konsequenz dieser Unsicherheit lässt sich an der Statistik ablesen. Laut dem türkischen Tourismus-Ministerium ist die Zahl der Besucher, die im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat ins Land kamen, um knapp 22,9 Prozent gesunken. Betrachtet man die Region Antalya, wo die Menschen hauptsächlich vom Tourismus leben, sind die Zahlen noch dramatischer. Quelle: dpa
Turkish-Airlines-Maschine im Anflug auf Antalya Quelle: REUTERS
Der weltgrößte Reisekonzern Tui schätzt derweil, dass er in diesem Jahr mit einer Million Urlaubern nur rund halb so viele Gäste in die Türkei bringt wie 2015. Die Buchungen liegen bis jetzt 40 Prozent niedriger als im Vorjahr, nur das Last-Minute-Geschäft birgt noch Hoffnung. Quelle: dpa

Die entstandenen Lücken in der Justiz und im öffentlichen Dienst will die türkische Regierung schnell schließen. Justizminister Bekir Bozdag kündigte die Einstellung von 3000 neuen Richtern und Staatsanwälten an. „Es wird keine Unannehmlichkeiten für unsere Bürger geben. Dafür haben wir Maßnahmen getroffen“, sagte er nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu vom Sonntag dem Sender Kanal 7.

Schon vor dem Putschversuch sei geplant gewesen, im November Prüfungen für 1500 neue Richter und Staatsanwälte anzubieten, sagte Bozdag. Aufgrund der „jüngsten Entwicklungen“ sei die Zahl der geplanten Neueinstellungen verdoppelt worden.

Bildungsminister Ismet Yilmaz kündigte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu vom Sonntag an, noch im laufenden Jahr mehr als 20.000 Lehrer neu einzustellen. Ursprünglich seien Neueinstellungen erst für kommenden Februar geplant gewesen. Aufgrund der „neu entstandenen Situation“ werde man aber schneller reagieren.

„Die Zahl an suspendierten Lehrern und die Verstaatlichung von Privatschulen haben für einen Bedarf gesorgt, der durch neu eingestellte Lehrer gedeckt werden wird“, sagte Yilmaz. Schüler, die bislang solche Privatschulen besuchten, sollten künftig von staatlich ausgewählten Lehrern unterrichtet werden. „Unseren Schülern sagen wir Folgendes: Keiner wird benachteiligt werden. Wir werden unserem Nachwuchs eine viel bessere Bildung als früher gewährleisten.“

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