Atomkatastrophe in Fukushima Wenn Geisterstädte erwachen

Fünf Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima normalisiert sich die Lage in der Region etwas. Anwohner kehren in verlassene Städte zurück. Zum Atomkraftwerk hat sich ein regelrechter Reiseverkehr entwickelt.

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Wachposten in Namie: Die in der Präfektur Fukushima gelegene Kleinstadt ist verlassen. Andere Städte in der Nähe des Kernkraftwerks werden wieder bewohnt. Quelle: dpa

Die Region um das Atomkraftwerk Fukushima erwacht allmählich zum Leben, wenn auch zaghaft. Fünf Jahre nach der Nuklearkatastrophe gibt es einen regelrechten Reiseverkehr in den einst abgeriegelten Sperrbezirk um das Pannenkraftwerk. Auf der Nationalstraße 6 fahren nicht nur 7.000 Arbeiter täglich zur Arbeit ins AKW, auch immer mehr Besucher zieht es dort hin. 5.794 Experten, Politiker, Journalisten und Anwohner waren es zwischen April 2015 und Dezember 2015, wie der AKW-Betreiber Tepco berichtet. Das waren mehr als im Gesamtjahr 2014.

Einst gesperrte Straßen in der Präfektur Fukushima sind wieder freigegeben; auf der Nationalstraße 6 fließt der Verkehr wieder ungehindert die Küste entlang. Autofahrer passieren nicht nur evakuierte Ortschaften, sondern in nur 2,5 Kilometer Entfernung auch die Atomruinen. Leuchttafeln an der Straße weisen auf die Strahlenwerte entlang der Strecke hin. Sie schwanken an einem Märztag zwischen 0,1 Mikrosievert pro Stunde, was etwa Werten in München entspricht, und 4,2 Mikrosievert pro Stunde, was zum Wohnen zu hoch ist.

Allmählich kehrt auch das Leben in verlassene Städte zurück, die in der Nähe des Atomkraftwerks liegen. Etwa in die Ortschaft Nahara. Seit fast sechs Monaten ist die Stadt – eine von sieben, die nach der Nuklearkatastrophe am 11. März 2011 evakuiert wurde – freigegeben.

Bisher seien vor allem Bauarbeiter, Rentner und Angestellte der Gemeinderegierung in die Stadt zurückgekehrt, sagt Yasoto Igari, der eine Galerie in Nahara betreibt. Er ist aber optimistisch, dass sich das ändern wird. „Ich glaube daran, dass die Leute zurückkommen werden“, sagt Igari. Bisher leben nur fünf Prozent der früheren Anwohner wieder in Nahara.

Kein Wunder, dass der Ort noch verlassen wirkt, fast wie eine Geisterstadt. Die meisten Geschäfte sind geschlossen. Die meisten Häuser sehen noch genauso aus wie vor fünf Jahren, als sie in Eile verlassen wurden.

Etwas belebter wirkt nur das Zentrum der kleinen Ortschaft. In der Nähe von Rathaus und Handelskammer steht auf einem Parkplatz eine Barackensiedlung mit mehreren kleinen Restaurants, einem winzigen Supermarkt und einer Post – das behelfsmäßige Einkaufszentrum von Nahara. Die Bank auf der anderen Straßenseite wird gerade renoviert und soll bald wieder eröffnen.


Bürgerinitiative für den Wiederaufbau

Der Galerist Igari hat schon früh Zeichen der Hoffnung gesetzt. Er ist ein Mann der ersten Stunde. Als die Regierung Naharas Bewohnern 2013 erlaubte, tagsüber in ihre Heimatstadt zu fahren, nutzte er sofort die Gelegenheit. Er renovierte sein Haus. Und eröffnete im November 2013 in einem Anbau, in dem vorher sein Designstudio und ein kleiner Recyclingshop waren, die Galerie G.TOO. Damit setzte er einen Lebenstraum um.

Den letzten Anstoß zur Galerieeröffnung war der Tod seiner Mutter gewesen, die während der Evakuierung der Stadt starb. Als Erinnerung an die Mutter, die gern malte, wagte sich Igari an das gewagte Unterfangen, in einer ausgestorbenen Stadt eine Galerie zu eröffnen. „Es wäre schön, wenn die Galerie den Menschen einen Anreiz zur Heimkehr geben könnte“, sagt Igari.

Doch er hat erkannt, dass das alleine nicht reicht. Zusätzlich engagiert er sich in einer Bürgerinitiative für den Wiederaufbau. Der Name lautet „Nanikashitai“, was sich mit Wir-wollen-was-tun-Gruppe übersetzen lässt. Am 17. Januar hatten die 39 Gründer ihr erstes Treffen. Seither überlegen sie, wie sie ihren Ort attraktiver machen können. Denn der Galerist träumt davon, dass die Stadt wieder lebendig wird. Freilich kann er Menschen verstehen, die sich lieber anderswo ihr Leben neu aufbauen wollen.

Denn die Atomkatastrophe lastet wie ein Schatten auf Nahara. Der Kneipier Hisao Yanai, der seinen Laden im April 2015 wieder eröffnet hat, misstraut den offiziellen Strahlenwerten. Er hat eigens einen Experten messen lassen; dessen Werte lagen in Teilen seines Gartens und Hauses über den offiziellen Angaben. Die amtlichen Messwerte liegen zwar in dem meisten Gegenden deutlich unter dem Grenzwert von 0,23 Mikrosievert pro Stunde. Doch es gebe noch viele Orte mit sehr hohen Strahlungswerten, meint Yanai.

Hinzu kommt: Aus den nicht entseuchten Wäldern könne Radioaktivität in das Tal, in die Stadt, getragen werden, fürchtet der Kneipier. Davor hatte Greenpeace in einer Studie gewarnt, die in der vergangenen Woche veröffentlicht wurde. „Die Regierung Abe verbreitet den Mythos, dass die Situation sich fünf Jahre nach der Atomkatastrophe normalisiert“, sagt Kendra Ulrich, Aktivistin von Greenpeace Japan. Doch dies sei reine politische Rhetorik und entspreche nicht wissenschaftlichen Tatsachen.

Die Regierung hat zwar Felder und Straßen, Gärten und Häuser dekontaminieren lassen. Doch in der Umgebung von Nahara liegt die dekontaminierte Erde auf riesigen Halden in Plastiksäcken, die nur behelfsmäßig mit Plastikplanen abgedeckt sind. Das Problem: Sie halten nur ein paar Jahre dicht. Aus einigen wüchsen schon Pflanzen, sagt ein Anwohner. Und  endgültige Lagerstätten fehlten noch. 


Ein Niemandsland, das bald wieder bewohnt werden soll

Nach Nahara wollen japanische Behörden auch andere Städte in Fukushima wieder frei geben. Ab dem kommenden Jahr sollen Bewohner etwa wieder nach Tomioka zurückkehren können. Darauf deutet bisher nichts hin – Tomioka ist eine Geisterstadt, auch wenn Besucher wieder durch die Straßen laufen dürfen.

Bisher sind nur eine Tankstelle und ein Büro geöffnet. In den Häusern und Läden sieht es noch genauso aus wie am Tag der Evakuierung aus. Die Fassaden sind rissig, viele Dächer kaputt. Nach fünf Jahren Leerstand müssen viele Häuser vollständig saniert oder gar abgerissen werden.

In der Nähe von Tomioka achten Polizeiposten darauf, dass keine Fahrrad- oder Motorradfahrer weiter nach Norden fahren. Sie wären der Strahlung schutzlos ausgesetzt. Autos dürfen passieren, da das Blech die Menschen schützt.

Weiter im Norden von Tomioka ist Niemandsland. In der Gemeinde Okuma, in der das Atomkraftwerk liegt, ist eine Rückkehr der früheren Anwohner derzeit undenkbar – ebenso wie in mehreren Gebieten nordwestlich des Kraftwerks, über die eine radioaktive Wolke zog. Hauseinfahrten sowie Seitenstraßen sind mit Schiebegittern verrammelt. Wachposten passen auf, dass sich keine Unbefugten in die Wohngebiete schleichen.

Dennoch sind in der Geisterstadt Okuma die Straßenlampen an. Je nach Sichtweise wirken die Laternen wie Zeichen der Hoffnung oder der Selbsttäuschung, dass die Menschen doch noch in ihre Heimat zurückkehren können.

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