Attacken und Ausländerfeindlichkeit Osteuropäer leben in Angst nach dem Brexit

Seit der EU-Osterweiterung sind Hunderttausende Osteuropäer nach Großbritannien gekommen. Aber das Brexit-Votum hat eine Welle von Ausländerfeindlichkeit nach sich gezogen – sogar mit körperlichen Attacken.

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Die Blumen und das Foto sollen an Arkadiusz Jozwik, bekannt als Arek, erinnern. Er wurde auf der Straße niedergeschlagen. Quelle: AP

Harlow Als sein Freund Arek auf der Straße getötet wurde, sah Eric Hind einen traurigen Beweis erbracht: Seine Wahlheimat hatte sich verändert. Ein ungutes Gefühl hatte er schon davor, kurz vor dem Referendum im Juni über den britischen Ausstieg aus der Europäischen Union. Da wurde ihm in der zunehmend hitzigen Debatte über den Platz Großbritanniens in Europa unmissverständlich klargemacht, dass er ein Outsider ist.

„Als mein Vermieter nach fünf Jahren Aufenthalt in Spanien vor dem Referendum zurückkam, hat er mich als erstes gefragt, wann ich zurück nach Polen gehe. Und er sagte, dass er für den Austritt stimmen wird“, schildert Hind.

Der heute 33-jährige war einer von Hunderttausenden Polen, die nach der EU-Osterweiterung 2004 die Chance nutzten, nach Großbritannien überzusiedeln – ein offenes, einladendes Land mit einem flexiblen Arbeitsmarkt und relativ hohen Löhnen. Heute, zwölf Jahre später, wohnt er in Harlow bei London, mit einer Familie und einem guten Job.

Nach dem Votum am 23. Juni bekam er auf seinem Handy SMS-Botschaften – so etwas wie „wann mein Bus zurück nach Hause abfährt, ob ich meinen Pass habe und viel Glück in Polen“. Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten ist ein Schlüsselprinzip in der EU, viele Europäer machen Gebrauch davon. Sie studieren und arbeiten im Ausland oder setzen sich dort zur Ruhe. Großbritanniens Votum für den EU-Ausstieg kam nach einer „Exit“-Kampagne, die dazu aufrief, „wieder die Kontrolle zu übernehmen“, und es ist zum Teil eine Absage an dieses Ideal der Grenzenlosigkeit.

Es hat zugleich eine Welle von offener Ausländerfeindlichkeit mit sich gebracht, mit Beleidigungen und körperlichen Attacken, wie Beobachtergruppen berichten. Viel davon richtet sich gegen Osteuropäer, die im vergangenen Jahrzehnt in Scharen auf die Insel gekommen sind, insbesondere gegen die Polen, mit einer Million in Großbritannien die größte Gruppe.

„Polnisch“ sei zu einem abfälligen Wort geworden, sagt Suresh Grover von der Monitoring Group, einer Wohlfahrtsorganisation, die sich um Opfer von Hassverbrechen kümmert. Aber nicht nur Osteuropäer seien im Visier: „Wir haben Fälle von Deutschen, Italienern und Franzosen. Die Opfer sind Leute, die eine andere Sprachen sprechen.“

Briten, die ethnischen Minderheiten angehören, berichten ebenfalls von gegen sie gerichteten Ausfällen. Der Anti-Migranten-Tenor der Brexit-Debatte habe „unakzeptable Formen von Rassismus legitimiert, von denen ich dachte, dass sie niemals wieder existieren könnten“, sagt Grover. „Wir haben Fälle, in denen das N-Wort wiederholt benutzt wird.“

Nach offiziellen Statistiken hat die Polizei in den zwei Wochen vor dem Referendum in England und Wales 1546 rassistisch oder religiös motivierte Vergehen registriert und 2241 in den beiden Wochen danach. Im Juli lag die Zahl um 41 Prozent über der im gleichen Monat des Vorjahres, im August war sie etwas niedriger, aber immer noch höher als vor dem Brexit-Votum.


„Es ist nicht so, wie es früher einmal war“

Ein paar Beispiele aus der Reihe von Vorfällen: Beleidigende Graffiti-Botschaften an den Wänden eines polnischen Gemeindezentrums, Karten mit der Aufschrift „kein polnischer Abschaum mehr“, die an den Windschutzscheiben von Autos hinterlassen wurden, zwei zusammengeschlagene Polen und ein junger polnischer Student, dem ein Angreifer mit einer Glasscherbe in den Hals stach.

Am Abend des 27. August kam es vor einem Pizzarestaurant in Harlow zu einer Konfrontation zwischen Hinds Freund Arek und einer Gruppe von Teenagern. Der 40-Jährige stürzte nach einem Boxhieb zu Boden, schlug mit dem Kopf auf und starb zwei Tage später im Krankenhaus.

Die Polizei untersucht den Vorfall als Hassverbrechen. Sechs Jugendliche im Alter von 15 und 16 Jahren wurden festgenommen, aber dann wieder freigelassen – fünf mangels Beweisen und der sechste gegen Kaution.

Der polnische Botschafter in Großbritannien, Arkady Rzegocki, äußerte sich „schockiert und erschüttert“ über die Feindseligkeiten. Er zeigte sich aber zuversichtlich, dass sich Vernunft und Anstand am Ende durchsetzen würden. So hätten viele Briten die Attacken in Briefen an die Botschaft verurteilt. Rzegocki verweist auch darauf, dass sich Großbritanniens Wirtschaft stark auf Migranten stütze – darunter Scharen von polnischen Klempnern, Kindermädchen und Obstpflückern.

Harlow, gut 30 Kilometer nördlich von London, entstand nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu den ersten Einwohnern zählten Menschen aus dem zerbombten London. Im Laufe der Jahre kamen Chinesen, Inder und dann später die Osteuropäer.

Dorothy Spriggs lebt seit fast 50 Jahren in Harlow.

Kürzlich stand sie an dem Ort, an dem Arek tödlich verletzt wurde, Einwohner haben auf Bänken in der Nähe Blumen, eine Kerze und drei große Stofftiere niedergelegt. „Ich finde, dass Menschen toleranter sein sollten“, sagt die 85-Jährige.

Aber dieser Appell wird Hind wohl nicht in Harlow oder gar Großbritannien halten. Er geht nach 18 Uhr nicht mehr in der Stadt auf die Straße und will die Insel verlassen – damit seine zweijährige in Großbritannien geborene Tochter dort aufwachsen könne, wo sie sich sicher fühle.

„Als ich nach Großbritannien gekommen bin, hatte ich das Gefühl, dass ein Traum wahr wird“, sagt Hind traurig. „Aber jetzt muss ich stets über meine Schulter schauen. Menschen haben Angst, auf der Straße ihre eigene Sprache zu sprechen. Es ist nicht so, wie es früher einmal war.“

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