Ob sich Chinas Premierminister Li Keqiang seinen Deutschland-Besuch in dieser Woche so vorgestellt hat? Ein paar Gespräche über Investitionen und die Vertiefung der ohnehin sehr guten bilateralen Beziehungen, ein Abstecher ins weltoffene Hamburg, wo Gäste aus China traditionell gern gesehen sind – das hätte doch alles recht nett werden können.
Deutschland und China – das ist eine wirtschaftliche Erfolgsstory. Deutsche Autobauer eilen in China mit ihren chinesischen Joint-Venture-Partnern von Absatz- zu Absatzrekord. Deutsche Maschinen- und Anlagenbauer modernisieren mit ihrer Hochtechnologie das Land. Solvente chinesische Unternehmen retten unterdessen marode deutsche Traditionsfirmen.
Wenn sich das Riesenreich dabei auch politisch von seiner schönen Seite zeigen würde, könnte in der langen Geschichte einer großen Freundschaft zwischen zwei Völkern ein neues Kapital aufgeschlagen werden.
Ein Mann räumt auf
Seit dem 1976 verstorbenen Staatsgründer Mao Tse-tung war kein chinesischer Politiker so mächtig wie der 61-jährige Xi Jinping.
In einer großen Kampagne gegen Korruption hat er dafür gesorgt, dass mehr als 200.000 Beamte angeklagt wurden. Der Präsident nutzte die Kampagne aber auch zur Säuberung von Partei- und Regierungsspitze von wichtigen Gegenspielern.
Blöd nur, dass kurz vor dem Besuch von Chinas Nummer zwei und seinem Kabinett diese Bilder aus Hongkong um die Welt gingen: Mit Schlagstöcken und Tränengas gehen Polizisten gegen friedliche Demonstranten vor, die nichts anderes wollen als freie und demokratische Wahlen.
Da ist es wieder, das hässliche Gesicht der chinesischen Ein-Parteien-Herrschaft. Es ruft Erinnerungen wach – an die Verfolgung von Künstlern, ethnischen Minderheiten, kritischen Journalisten und Bloggern und auch an das Tiananmen-Massaker vom Juni 1989, eine der dunkelsten Stunden der chinesischen Geschichte.
Xi hat die Schrauben angezogen
Ein freieres Land ist China seit dem Amtsantritt von Xi Jinping als Staatschef im Frühjahr 2013 nicht geworden. Im Gegenteil: In den meisten gesellschaftlichen und politischen Bereichen hat er die Schrauben angezogen. „Xi Jinping und die Reformer wollen auf der einen Seite eine freiere Gesellschaft mit weniger Korruption, auf der anderen Seite wollen sie die Alleinherrschaft der Partei um jeden Preis erhalten“, sagt Gary Liu, stellvertretender Direktor der Wirtschaftsschule Ceibs in Shanghai. „Das ist ein Paradox.“
Dabei hat noch nie ein Führer seit Deng Xiaoping so viele Reformen angekündigt wie Xi. Noch nie seit Maos Zeiten hat ein chinesischer Präsident so viel Macht in seinem Amt vereint. Seine Antikorruptionskampagne hat ihn im Volk beliebt gemacht – und gleichzeitig hat er gnadenlos die Gelegenheit genutzt, politische Gegner beiseite zu räumen.
Zitate von Xi Jinping
"Wagt zu träumen und arbeitet hart, damit der Traum wahr wird!"
"Wir verbreiten den Sozialismus mit chinesischen Merkmalen!"
"Chinas Traum ist der Traum von einer schönen Umwelt!"
"Von Chinas Traum sollen alle Nationen profitieren!"
"Wir sollten eine offene Weltwirtschaft errichten!"
Nun wäre der Weg frei, Reformen anzupacken und das Versprechen an die gut 1,3 Milliarden Landsleute wahr zu machen, das Xi unter dem Begriff „chinesischer Traum“ zusammengefasst hat. Die Prophezeiung heißt: Jeder kann es schaffen, wenn er nur hart arbeitet – fast wie in Amerika. „Dabei handelt es sich um ein großes Strategie-Projekt der neuen Führung“, sagt Jia Min, Professor an der China Executive Leadership Academy Pudong in Shanghai. „Der chinesische Traum verbindet nationale und individuelle Ambitionen für die nächsten zehn Jahre.“
„Aber es geht um mehr“, sagt Jia. „Der chinesische Traum bezieht sich auch auf den Stolz der Nation und das Image Chinas in der Welt.“ 2021 wird die Kommunistische Partei ihren 100. Geburtstag feiern. Bis dahin soll das Land eine „voll entwickelte Nation“ mit einer nachhaltigen und umweltfreundlichen Wirtschaft geworden sein – und international zumindest respektiert, wenn schon nicht beliebt.
„Uns geht es gut“
Die harte Reaktion auf die Proteste in Hongkong macht Letzteres unwahrscheinlich. Auf Verständnis in China aber können die Demonstranten aus der liberalen Enklave auch nicht hoffen – zu sehr unterscheidet sich ihre Lebenswelt von der Realität auf dem Festland.
Die Aufstiegserfahrung der vergangenen 30 Jahre stimmt die allermeisten Chinesen positiv für die Zukunft. Träume von größerer Freiheit, höherer Lebensqualität, mehr Wohlstand und vor allem Stolz haben sie trotzdem.
Vier von ihnen stellen wir auf den folgenden Seiten vor. Ihr Optimismus ist der Treibstoff, mit dem Xi das Land reformieren und liberalisieren kann. Doch diese Ressource ist irgendwann einmal erschöpft. Wenn der Treibstoff verbraucht ist, schließt sich das Zeitfenster, in dem der chinesische Traum wahr werden kann.
Um eine Mahlzeit zu kochen, braucht Chang Yanhong weniger als eine Minute. Erst wirft die 35-jährige Frau die Nudeln in den Wok. Es zischt, der Löffel scheppert auf dem Metall. Es folgen Salz, Sojasoße, Chili, etwas Kohl und schließlich ein Ei. Noch einmal schwenkt sie die Nudeln, dann gibt sie die Portion in eine Styropor-Box. Sieben Yuan, umgerechnet 90 Cent, kostet das. Alles, was die Köchin braucht, hat auf einem kleinen Karren Platz: die Zutaten, eine Gasflasche und der Wok.
Nicht weit von der Straßenecke in Shanghai, an der Yanhongs Karren steht, hängen große Plakate. Sie zeigen viele verschiedene Menschen, Alte, Junge, Kinder in bunten Gewändern auf weißem Hintergrund – immer mit dem Schriftzug „Zhong Guo Meng“, „Der chinesische Traum“.
Kurz nach dem Amtsantritt Xi Jinpings Anfang 2013 tauchten die Plakate auf. Yanhong und ihr Mann sind schon vor acht Jahren nach Shanghai gekommen. „Wir haben hier mehr Möglichkeiten“, sagt Yanhong. „In unserem Heimatdorf leben nur noch Alte, Kinder und Kranke.“
Wanderarbeiter zufrieden
Für Wanderarbeiter wie Yanhong und ihren Mann, die in bitterer Armut auf dem Land aufgewachsen sind, stimmt die Rechnung. 200 Yuan, knapp 26 Euro, nehmen die beiden am Tag ein.
Nach Abzug aller Kosten bleiben den Kleinstunternehmern im Monat etwa 4000 Yuan, gut 500 Euro. Davon zahlen sie 1500 Yuan Miete für ein 15-Quadratmeter-Zimmer, in dem die Familie zu fünft lebt. Trotzdem konnten die beiden in den letzten acht Jahren so viel zurücklegen, dass es für ein kleines Häuschen in ihrem Heimatdorf in der Provinz Anhui gereicht hat.
Berühmte chinesische Regimekritiker
Der uigurische Bürgerrechtler geriet erst vor kurzer Zeit in die Schlagzeilen: Ein Gericht verurteilte ihn zu lebenslanger Haft - er will den Richterspruch anfechten. Denn die Behörden hätten seinen Verteidigern nicht alle Beweise zur Verfügung gestellt, und dem früheren Wirtschaftsprofessor auch nicht den Grund für seine Verhaftung mitgeteilt.
Der Künstler war schon mehrfach in Haft, zuletzt wegen einem angeblichen Wirtschaftsdelikt - damals wurde er unter strengen Auflagen und nur gegen Kaution freigelassen. Obwohl er oft im Ausland unterwegs ist, plant er nicht ins Exil zu gehen.
Seinen Friedensnobelpreis, den er 2010 erhielt, hat er bis heute nicht nicht abgeholt. Bei der Zeremonie in Oslo blieb sein Stuhl auch symbolisch leer, denn auch seine Frau steht unter Hausarrest. Der Schriftsteller und Menschenrechtler wurde 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt wegen "Untergrabung der Staatsgewalt."
Dem blinden Menschenrechtsaktivisten gelang 2012 die Flucht in die USA. Nach diplomatischen Bemühungen bekam er - überraschend schnell - ein Stipendium für eine amerikanische Universität und konnte mit seiner Familie ausreisen. Zuvor wurde er mehrfach inhaftiert und unter Hausarrest gestellt, unter anderem weil er Dorfbewohner in der Shandong juristisch beraten hatte, die sich gegen gegen Zwangssterilisationen und erzwungene Schwangerschaftsabbrüche wehren wollten.
Seit 2011 ist es ruhig um ihn geworden: Damals wurde der Bürgerrechtler und Umweltaktivist aus dem Gefängnis entlassen, in dem er wegen "umstürzlerischer Machenschaften" saß. Er ist Träger des Sacharow-Preises für geistige Freiheit des Europäischen Parlamentes. Mit Freunden gründete er eine Organisation zur medizinischen Vorsorge.
Der Anwalt setzt sich vor allem gegen Menschenrechtsverletzungen vor Gericht ein, die er allerdings auch schon selbst erleben musste. Er unterstützte dabei vor allem religiöse Minderheiten, wie die Falun Gong. Er selbst ist Christ. Erst Mitte August wurde er nach drei Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen, in dem er auch gefoltert worden sein soll. Es war nicht seine erste Haft. Noch 2001 gehörte er zu den zehn besten Anwälte Chinas; 2005 trat er aus der Partei aus. Seine Familie bekam mittlerweile politisches Asyl in den USA; er steht in China unter Hausarrest und darf nicht ausreisen.
„Uns geht es gut“, sagt Yanhong. „Probleme machen uns nur die Chengguan.“ Die Straßenpolizei patrouilliert täglich die kleinen Garküchen und verteilt Bußgelder an diejenigen, die keine Lizenz haben. Das sind fast alle.
So funktioniert China seit 30 Jahren
Doch Yanhong und ihr Mann wissen, wann die Polizei kommt. Immer um 19 Uhr fahren sie ihre Garküche in eine Seitenstraße und verstecken sich dort, bis die Patrouille verschwunden ist. An eine Rückkehr ins Heimatdorf denken die beiden nicht. Sie sind zuversichtlich, in den nächsten Jahren noch mehr Geld verdienen zu können.
So funktioniert China seit 30 Jahren: In den Städten gibt es Arbeit in Fabriken, Restaurants – und mittlerweile auch in immer mehr Kanzleien, Werbeagenturen und Unternehmensberatungen. Auf dem Land lebt ein schier unerschöpfliches Reservoir an Arbeitskräften in Dritte-Welt-Verhältnissen.
Die Jungen, Fleißigen und Ehrgeizigen ziehen in die Städte, um Geld zu verdienen. Eine halbe Milliarde Menschen arbeitete sich so in den vergangenen drei Jahrzehnten aus der Armut heraus. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes leben jetzt mehr Chinesen in Städten als auf dem Land.
Das optimistischste Volk der Welt
Bis 2030 sollen aus noch einmal 300 Millionen Bauern Stadtbewohner werden. Auch wenn Millionen ein aus westlicher Perspektive miserables Leben führen – die unmittelbare Erfahrung, es aus bitterer Armut und Hunger zu bescheidenem Wohlstand zu bringen, macht die Chinesen zum optimistischsten Volk der Welt. 83 Prozent der Chinesen blicken positiv in die Zukunft – das ist das Ergebnis einer vom amerikanischen Meinungsforschungsinstitut Pew veröffentlichten Umfrage. 70 Prozent der Chinesen finden, ihre finanzielle Situation sei besser als vor fünf Jahren. In Deutschland sagen das nur 23 Prozent.
Wer in China aber weiter aufsteigen will als Yanhongs Familie, hat es schwer. Das dämmert inzwischen auch jungen Universitätsabsolventen. Boris Shao ist gerade 25 Jahre alt geworden. Er ist 1989, eine Woche vor dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, auf die Welt gekommen.
Von den Ereignissen damals hat er nie etwas gehört. Auch 25 Jahre danach wird das Thema von den staatlich kontrollierten Medien totgeschwiegen. Wie mittlerweile sehr viele junge Chinesen hat Shao sich selbst einen westlichen Vornamen ausgesucht.
Shao arbeitet bei einem amerikanischen Automobilzulieferer im Vertrieb. Aufgewachsen ist der Bauernsohn in einem kleinen Dorf in der Provinz Zhejiang. Auf der Suche nach Arbeit und Geld ist er in die Stadt gezogen, „wie alle aus meiner Schulklasse“, sagt er. Um die 640 Euro verdient er jetzt im Monat – rund doppelt so viel wie ein Fabrikarbeiter.
Männer ohne Wohnung haben wenig Chancen
Shao will noch viel erreichen: Er will sich ein Auto kaufen. „Ich weiß schon, es gibt zu viele Autos in der Stadt, aber ich würde gerne Kurzausflüge aufs Land unternehmen.“ Mit seinem Gehalt muss es irgendwie auch noch zu einer Eigentumswohnung reichen. Denn am Ende von Shaos persönlichem Fünfjahresplan steht das Heiraten. Männer ohne eigene Wohnung haben auf dem chinesischen Heiratsmarkt wenig Chancen.
Die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen
China ist der nach Frankreich und den Niederlanden der größte Handelspartner Deutschlands. 2013 wurden Waren im Wert von mehr als 140 Milliarden Euro ausgetauscht. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) geht davon aus, dass China in etwa zehn Jahren zum Handelspartner Nummer eins aufsteigen wird.
Die Exporte nach China summierten sich 2013 auf rund 67 Milliarden Euro. Exportschlager sind Maschinen, Fahrzeuge und chemische Produkte. Für Unternehmen wie Audi ist China bereits der wichtigste Absatzmarkt.
Die Chinesen schickten 2013 Waren im Wert von gut 73 Milliarden Euro hierher und damit etwa viermal so viel wie 2000. Vor allem Computer, Handys und Elektronik liefert der Exportweltmeister nach Deutschland. Weitere Verkaufsschlager sind Bekleidung und elektrische Ausrüstungen.
Mehr als 26,5 Milliarden Euro haben deutsche Unternehmen bislang in China investiert. Etwa 4000 Firmen sind dort aktiv. Allein 2012 stiegen die deutschen Investitionen in der Volksrepublik um 28,5 Prozent auf 1,45 Milliarden Dollar. Umgekehrt zieht es immer mehr Chinesen nach Deutschland. 98 Unternehmen siedelten sich 2012 hierzulande neu an - China ist damit Auslandsinvestor Nummer drei, nach den USA und der Schweiz. 2000 Unternehmen sind inzwischen hier ansässig.
Wie viele gleichaltrige Chinesen wirkt Shao kindlicher als Europäer seines Alters. Für Hobbys oder persönliche Interessen außerhalb von Schule und Arbeit hatten Shao und seine Altersgenossen nie Zeit. Auf die harten Schuljahre mit den 16-Stunden-Tagen folgten Universität und der erste Job: Mit 27 spätestens, so die allgemeine Erwartung, sollten Männer eine Wohnung besitzen und Frauen verheiratet sein.
Junge Leute im Hamsterrad
Wer das nicht schafft, gilt als „Diao Si“, als Verlierer, oder als „Sheng Nu“, als „Reste-Frau“. Die Immobilienpreise aber steigen und steigen. Wer in den Neunzigern eine Wohnung kaufte, ist heute reich. Alle anderen haben das Nachsehen.
Junge Leute ohne Beziehungen und ohne reiche Eltern laufen sich krank im Hamsterrad. Rund 60 Prozent aller Erwerbstätigen in Peking machen täglich mehr als zwei Überstunden, obwohl das verboten ist. Sie brauchen das Geld: nicht zum Ausgeben, sondern zum Sparen – für eine Eigentumswohnung und als Ersatz für die unzureichende Alters- und Krankenversicherung.
Die Regierung klammert sich an ihr Wachstumsziel: 7,5 Prozent sollen es dieses Jahr werden. Solange nur die Arbeitslosigkeit gering bleibt, kann auch die Illusion aufrechterhalten werden, es mit harter Arbeit schaffen zu können.
Wo bleibt die Fairness?
Das Unternehmen Shanghai Seagull Camera liegt in einem gigantischen Gewerbegebiet in einem Außenbezirk von Shanghai. Der immergraue Himmel der Metropole hängt tief, die Luft ist schwer und schwül.
Qu Tao ist seit 2012 Leiter der Kamerafabrik. Er hat sich aus einfachsten Verhältnissen nach oben gearbeitet. In seiner Kindheit konnte sich keiner in seinem Dorf Fleisch leisten, Gemüse und manchmal sogar Reis waren knapp.
Der heute 45-jährige Ingenieur hat 1996 sein Studium abgeschlossen. „Damals durften nur knapp drei Prozent aller Schüler auf die Universität“, berichtet er, „viel weniger als heute. Also musste ich hart lernen.“ Sechs Jahre lang stand er jeden Tag um fünf Uhr auf und lernte bis zehn Uhr abends. Und darum war er der erste Universitätsstudent aus seinem Dorf in der Provinz Shandong und auch der erste, der Mitglied der Kommunistischen Partei (KP) werden durfte. Auch darauf ist er stolz.
Aber Qu hatte auch das Glück, zur richtigen Zeit geboren zu sein. In den Neunzigerjahren privatisierte der Präsident Jiang Zemin die maroden Staatsunternehmen. China liberalisierte damals die Wirtschaft, baute viele Bestimmungen ab und öffnete viele Branchen für ausländische Investoren. Um zehn Prozent und mehr wuchs die Wirtschaft damals pro Jahr.
Doch das ist lange her, seitdem tut sich wenig Neues. Nicht nur Ausländer beklagen den Reformstau. „Wir brauchen mehr Rechtsstaatlichkeit, Fairness und Meinungsfreiheit“, sagt Fabrikdirektor Qu. „Der Staat mischt sich noch zu viel in die Belange kleiner Unternehmen ein.“
Ansätze für Reformen
Noch immer sind private Unternehmen von Schlüsselsektoren wie Telekommunikation, Banken, Energie und Transport ausgeschlossen. Dabei gibt es Ansätze zu Reformen. Bestes Beispiel ist die Freihandelszone in Shanghai. Das mit viel Tamtam vor einem Jahr eröffnete 28 Quadratkilometer große Gebiet am Flughafen Pudong sollte zum Beispiel Banken und Versicherungen für ausländisches Kapital öffnen und den freien Devisenverkehr proben. Übrig geblieben ist eine umfangreiche Negativliste mit all dem, was Unternehmen auch hier nicht dürfen.
So ähnlich läuft es im ganzen Land. Auf ökonomische Probleme reagiert die politische Führung nicht mit Reformen, sondern mit Geldspritzen. Im Frühsommer pumpte die Regierung mal eben 128 Milliarden Dollar in den Ausbau des Eisenbahnnetzes, 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Noch immer machen Investitionen die Hälfte vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) aus, noch immer wird der Bankensektor mit Krediten geflutet, um die Staatsunternehmen mit billigem Geld zu versorgen.
Es fehlt an qualifizierten Arbeitern
Die Gesamtverschuldung einschließlich des Schattenbankensektors liegt bei mehr als 200 Prozent vom BIP, und diese Zahl wächst, während das Wirtschaftswachstum langsamer wird. Die Unternehmen erzielen mit immer mehr Geld immer weniger Wachstum.
Gleichzeitig steigen die Gehälter. Jedes Jahr steigt der Mindestlohn um 13 Prozent, und die Produktivität hält nicht Schritt. Darum wandern schon jetzt viele Unternehmen nach Südostasien ab, wo Arbeitskräfte weniger kosten. Das wäre für China kein Problem, würden die Unternehmen des Landes gleichzeitig auf der Wertschöpfungskette nach oben klettern.
Doch dafür fehlt es an qualifizierten Mitarbeitern. Zwar spucken die chinesischen Universitäten heute sieben Millionen Absolventen im Jahr aus – fast viermal mehr als 2004. Doch Unternehmer beklagen deren schlechte Ausbildung. „Vielen jungen Leuten fehlt die mentale Reife, auch harte Zeiten überstehen zu können“, klagt der Kamerafabrikant Qu Tao über die neue Einzelkindergeneration. Trotzdem ist er zuversichtlich. „Im 19. Jahrhundert trug China ein Drittel zur Wirtschaftsleistung der Welt bei“, sagt er. „Das wird wiederkommen.“
Deutschland ist so sauber
Sie steht vor einem Dutzend Studenten und spricht mit ruhiger Stimme. Zhou Ling lehrt Pädagogik an der East China University of Science and Technology. Die 53-jährige Professorin besitzt zwei Eigentumswohnungen und muss sich um Geld keine Sorgen mehr machen. Zhou steht ziemlich weit oben in der rund 300 Millionen Menschen zählenden neuen chinesischen Mittelschicht. Für sie ist der Traum von mehr Wohlstand kein Versprechen mehr, sondern Realität geworden.
Zhou hat zwei Söhne, 25 und 18 Jahre alt, und die studieren in den USA. Wer es sich in China leisten kann, schickt seine Kinder ins Ausland, wo die Ausbildung besser, die Umweltverschmutzung geringer, das Essen weniger bedenklich ist. Nahezu täglich wird China von einem Lebensmittelskandal erschüttert: verseuchtes Milchpulver in Supermärkten, als Lamm deklariertes Rattenfleisch an Straßenständen, abgelaufenes Hühnerfleisch bei Kentucky Fried Chicken.
An schlechten Tagen kratzt die Luft beim Atmen und brennt in den Augen: Luftverschmutzung, wenn die Kohlekraftwerke auf Hochtouren laufen. In Peking wurde der von der Weltgesundheitsorganisation festgesetzte Grenzwert für CO₂ schon um das 30-Fache überschritten.
Zum chinesischen Traum passt das gar nicht, und die Regierung hat die Probleme durchaus erkannt. In die Sauberhaltung der Luft will China in den nächsten fünf Jahren 280 Milliarden Dollar investieren. Bis 2020 sollen landesweit 20 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien kommen. Kein anderes Land investiert so viel in Wind- und Sonnenenergie wie China.
Reiche Chinesen wollen auswandern
Trotzdem wird es vorerst schlimmer und nicht besser werden: Auch wenn der relative Anteil von Kohle an der Energiegewinnung abnimmt, steigt die absolute Menge. Nach einer Prognose der Internationalen Energieagentur in Paris wird der chinesische Kohleverbrauch seinen Scheitelpunkt erst 2030 erreichen.
Das ist aber nicht die Sorge der Bevölkerungsmehrheit in China. Wer arm ist, erwartet von der politischen Führung vor allem Korruptionsbekämpfung, niedrigere Immobilienpreise und mehr Wohlstand. Das hat Vorrang für die Politiker in Peking. Umweltschutz und Lebensmittelsicherheit sind Anliegen der Mittel- und Oberschicht, die nur etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmachen.
Die aber drohen, mit den Füßen abzustimmen. 64 Prozent der reichen Chinesen mit einem Vermögen von mehr als zehn Millionen Yuan (etwa 1,3 Millionen Euro) planen ernsthaft auszuwandern – oder denken wenigstens darüber nach.
Auch Professorin Zhou ist der Gedanke nicht fremd, besonders Deutschland hat es ihr angetan. „Mich hat das Gemeinschaftsgefühl dort sehr beeindruckt“, sagt die Mittfünfzigerin. „Und die saubere Umwelt.“ Eigentlich seien es nur ihre pflegebedürftigen Eltern, die sie von der Emigration abhalten.
Stolz auf die Weltmacht
In sein drei Quadratmeter großes Kabuff hat Chen Tingyao, ein Veteran der Volksbefreiungsarmee, einen Bürostuhl, einen kleinen Schreibtisch, seine Teekanne, Computer und Telefon hineingezwängt. Die Wohnanlage, deren Einfahrt der 70-Jährige bewacht, besteht aus mehreren denkmalgeschützten Gebäuden im ehemals französisch kontrollierten Teil von Shanghai – prächtige, etwas heruntergekommene Häuser im Art-déco-Stil, in denen heute reiche Chinesen und Ausländer wohnen.
Nach Shanghai kam Chen vor sechs Jahren. „Ich muss Geld verdienen“, sagt der dünne, gut gelaunte Mann. 16 Jahre war er alt, als er sich zur Armee gemeldet hat. Später arbeitete er in einer Ziegelfabrik. Auf dem Land erhält er eine Rente in Höhe von umgerechnet acht Euro. Hier bekommt er umgerechnet 200 Euro als Parkwächter.
Eine junge Frau fährt mit einem neuen BMW in die Einfahrt. Chen weist der Dame einen Parkplatz zu und setzt sich wieder. Neid auf den Reichtum der jungen Städter kennt er nicht: „Bei mir bekommt jeder einen Parkplatz – egal, welches Auto er fährt!“
Wenn es um sein Heimatland geht, blitzen die alten Soldatenaugen. „China ist auf dem Weg zur Weltmacht, das macht mich stolz“, sagt Chen und hebt den Zeigefinger. „Allerdings neiden viele Nachbarländer uns diesen Erfolg!“
Welt profitierte von Chinas Wachstum
Bisher verlief Chinas Aufstieg friedlich. Vom Wachstum des Landes profitierte die ganze Welt. Die Amerikaner kauften billige Produkte und bezahlten sie mit amerikanischen Staatsanleihen. Die wechselseitige Abhängigkeit war auch friedenssichernd. Deutsche und Japaner verkauften Millionen von Autos und Maschinen nach China, und als 2008 die Finanzkrise die westliche Welt erschütterte, trug das gigantische chinesische Konjunkturpaket zur globalen Stabilisierung bei.
Aber das war gestern. Unter Xi Jinping dehnt China seine Einflusssphäre aus. Peking beansprucht mit völkerrechtlich zweifelhaften Argumenten Inseln im Südchinesischen Meer und rüstet auf. Die Militärausgaben steigen Jahr für Jahr zwischen 10 und 20 Prozent.
Der alte Soldat Chen freut sich über so etwas. Für ihn sind endlich die Jahre der Demütigung Chinas vorbei. Jeden Tag liest er die „Renmin Ribao“, die Volkszeitung. Im scharfen nationalistischen Ton berichtet das Parteiorgan über die Konflikte mit den Nachbarn: Vietnam, die Philippinen, und immer wieder Japan.
Der siegreiche Kampf gegen die japanischen Besatzer im Zweiten Weltkrieg gehört zur Heldengeschichte der chinesischen KP. Jedes chinesische Schulkind hört von den Gräueltaten der japanischen Invasoren vor 1945. Da wird der Streit mit Tokio um die bis auf ein paar Ziegen unbewohnten Diaoyu-Inseln zum Anlass für die chinesische Führung, ihre wachsende Stärke nach außen und innen zu demonstrieren, mit der Entsendung von Kriegsschiffen und Kampfflugzeugen, aber auch mit Drohungen gegen japanische Unternehmen in China.
Der neue Nationalismus füllt ein ideologisches Vakuum. Die diktatorisch herrschende Partei ist seit Langem nur noch dem Namen nach kommunistisch – und ihr Ziel, China wohlhabend und mächtig zu machen, ist noch lange nicht erreicht.
Xis ungewöhnliche Popularität
Bleibt der Kampf gegen die Korruption als Instrument der Pekinger Führung im Kampf um die Sympathie ihrer Untertanen. Präsident Xi und und sein Premierminister Li Keqiang haben da tatsächlich Erfolge vorzuweisen, und das erklärt auch zu einem guten Teil Xis ungewöhnliche Popularität. Zur Korruptionsbekämpfung gehören öffentlichkeitswirksame Kampagnen: Allwöchentlich werden prominente Sünder im Staatsfernsehen vorgeführt, und viele Millionen Chinesen erfahren dadurch, wie ernst Xi und Li es mit dem Kampf gegen die allgegenwärtige Plage meinen.
Aber ist das wirklich so? Die Entlarvung korrupter Funktionäre packt das Problem nicht an seiner Wurzel. Entscheidungsträger im Staatsapparat Chinas sind nach wie vor abhängig von der Gnade der Staatsführung – Menschen oder auch Unternehmen, die von staatlichen Entscheidungen abhängig sind, begegnen einer schwer durchschaubaren Willkür.
Das fördert die Korruption, auch wenn jetzt immer wieder einzelne bestochene Funktionsträger ihre Posten verlieren und zu hohen Strafen verurteilt werden. Abhilfe könnte vielleicht eine von Parteiführung und Regierung unabhängige Untersuchungskommission schaffen, aber so etwas gibt es nicht.
Helfen würde schon eine Veröffentlichungspflicht für Nebeneinnahmen von Politikern. Daran ist nicht zu denken. So blieb es der amerikanischen Nachrichtenagentur Bloomberg vorbehalten, vor zwei Jahren die sehr komfortablen Vermögensverhältnisse der Familie Xi zu enthüllen.
Bloomberg bekam darauf Probleme in China. Aus der Pekinger Volkszeitung erfuhren der brave Soldat Chen und die Abermillionen weiteren Leser davon nichts.