Vor elf Jahren schuf Goldman Sachs-Chefvolkswirt Jim O’Neill mit dem Akronym BRIC (für Brasilien, Russland, Indien und China) einen griffigen Sammelbegriff für die vier größten Schwellenländer, die seiner Ansicht nach die globale Wirtschaft bis zum Jahr 2050 mehr und mehr dominieren und in die sich Investments rentieren würden.
Damit hatte er Erfolg – im hauseigenen Bric-Fonds sammelte Goldman Sachs 410 Millionen US-Dollar. Auch andere Banken und Vermögensverwalter sprangen auf den Bric-Zug auf: Zwischen 2001 und 2010 legten sie insgesamt 67 Milliarden Dollar in Bric-Fonds an.
Nicht zufällig spiegelte sich der Bric-Vormarsch auch in der internationalen Politik wieder. G8-Weltwirtschaftsgipfel sind seit 2009 nur noch Randereignisse, als die alten Weltwirtschaftsmächte allein nicht die Kraft zur Lösung der Finanzkrise hatten. Die globalen Entscheidungen finden jetzt im Rahmen der G 20 statt, wo die Schwellenländer, angeführt von China, Brasilien und Indien, eine entscheidende Rolle spielen.
Vor allem Brasilien und Indien enttäuschen
Doch schon im vergangenen Jahr zogen die Geldanleger 15 Milliarden Dollar aus den Bric-Fonds ab. Der Grund: Die Bric-Länder zeigen Schwäche. Auch Jim O’Neill, inzwischen zum Chairman von Goldman Sachs Asset Management aufgerückt, sieht sich von seinen einstigen Stars „enttäuscht“. Sie bringen derzeit nicht das, was er sich und seinen Anlegern von ihnen versprochen hat.
Brasiliens Wirtschaftsboom etwa knickte schon im vergangenen Jahr ein und stagniert in diesem Jahr nahezu. Dabei hatte Goldman Sachs im nächsten Jahrzehnt für das größte Land Lateinamerikas ein durchschnittliches Wachstum von mehr als fünf Prozent jährlich vorhergesagt. Und das, obwohl es schon im vergangenen Jahrzehnt lediglich 3,3 Prozent im Jahresschnitt erreicht hatte. „Damit Brasilien unsere Erwartungen erfüllt, muss es sein Wachstum beschleunigen“, fordert O’Neill.
„Am meisten enttäuscht“ aber fühlt sich der Goldman Sachs-Mann von der aktuellen Wirtschaftsentwicklung Indiens. Nicht zuletzt, weil der Subkontinent seiner Ansicht nach „das langfristig höchste Wachstumspotenzial der vier Länder“ hat, nun aber schwächelt. Allein Russland und China sieht O‘Neill noch in der Spur. Russland überraschte ihn sogar positiv mit einem Wachstum von 4,9 Prozent im ersten Quartal dieses Jahres. Und China sieht er im sanften Gleitflug auf den für das nächste Jahrzehnt prognostizierten Wachstumspfad zwischen 7,5 und 8,0 Prozent. Zweistellige Zuwachsraten aber sind auch hier passé.
Mist - die neuen Hoffnungsträger
Doch Jim O’Neill trauert nicht lange angesichts der Schwäche seiner Altstars. Er zaubert vier neue aus dem Hut mit dem schönen Akronym MIST: Mexiko, Indonesien, Südkorea und Türkei (alle übrigens auch bei den G20 dabei) sind seine neuen Hoffnungsträger. Die vier machen allein drei Viertel des Next-11 Fonds von Goldman Sachs aus, dessen Wert in diesem Jahr mit 12 Prozent ungefähr viermal so schnell wuchs der Bric-Fonds der Goldmänner.
Aber die Mist-Länderriege leidet unter dem gleichen Nachteil wie die Bric-Gruppe: Sie ist sehr heterogen zusammengesetzt, vom rohstoffreichen Indonesien bis hin zu dem Exportwunder Südkorea, das beim IWF unter den neuindustrialisierten Ländern Asiens geführt wird und längst den Kinderschuhen der Schwellenländern entwachsen ist.
Schon allein angesichts eines Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in Höhe von 23 700 Dollar kann dieses Land naturgemäß nicht mehr so schnell wachsen wie Indien, dessen BIP pro Kopf nur ein Sechzehntel so hoch ist. Doch mit solchen strukturellen Merkmalen hält sich O’Neill nicht auf. Dabei lohnt es sich meiner Ansicht nach, die Bric- und Mist-Länder einmal in Bezug auf ihre Risikoanfälligkeit und ihre Wachstumschancen zu vergleichen.
Risiko autoritäre Systeme…
Langfristig gesehen, das zeigt ein Blick in die Geschichte, dürfte politische Instabilität das größte Risiko sein. Allerdings ist sie auch am schwersten vorhersagbar. Umbrüche und Revolutionen wie zuletzt das Beispiel der arabischen Länder, aber auch das Ende des Ostblocks, kommen meist unvorhergesehen und überraschend. Von solchen Entwicklungen dürften, in unterschiedlichen Ausmaß, vor allem China, Russland, Indien und Südkorea betroffen sein, während Brasilien, Mexiko, Indonesien und die Türkei weniger gefährdet erscheinen.
Am anfälligsten für politische Risiken ist China. Viel wichtiger als die Frage, ob China jetzt eine konjunkturell sanfte Landung hinbekommt, dürfte es nämlich sein, ob das Land einen graduellen Übergang von der KP-Diktatur zu demokratischen gesellschaftlichen Strukturen findet. Wenn nicht, drohen früher oder später Eruptionen. Denn auch wenn autoritäre Länder zeitweilig wirtschaftlich erfolgreicher sein und eine gewisse Zeit lang ihre Bevölkerung dadurch kalmieren können, langfristig ist ein Wohlstand ohne mehr Partizipation undenkbar.
Russlands Fassade
Ähnlich gilt das auch für Russland, dessen parlamentarische Fassade den autoritären Kern kaum verhüllen kann. Rechtsstaat ist hier ein Witz. Die rohstoffreiche Wirtschaft liegt weitgehend in den Händen einer mafiaösen, mit Minidiktator Wladimir Putin verwobenen Oligarchie. Die Bevölkerung partizipiert nur teilweise an den Erträgen der Rohstoffexporte. Auf Dauer wird sich die Mittelschicht dies nicht bieten lassen.
… und politische Instabilität
Anders gelagert sind die politischen Risiken in Indien und Korea. Indien feiert sich selbst gern als größte Demokratie der Welt, und in der Tat funktionieren die Regierungswechsel. Doch zeigt sich die nur um sich selbst besorgte politische Elite unfähig, Korruption und Armut zu beseitigen – trotz eines chronisch hochdefizitären Haushalts. Das führt zu ständigen Unruhen, Aufständische haben inzwischen ganze Landstriche dem Gewaltmonopol des Staates entzogen.
Südkorea hat dagegen seit dem Ende der Militärdiktatur große Fortschritte erzielt beim Aufbau von Demokratie und Wirtschaft. Über allem jedoch hängt das völlig unberechenbare Nordkorea wie ein zitterndes Damoklesschwert. Und selbst wenn es zu einer friedlichen Wiedervereinigung kommen sollte wie in Deutschland, dürfte nicht ohne Turbulenzen von statten gehen. Nordkoreas Bevölkerungszahl ist etwa halb so groß wie die des Südens, in Deutschland war das Verhältnis bloß eins zu vier, und trotzdem musste und muss Deutschland enorme Anstrengungen unternehmen, um die Lasten zu tragen.
Risiko Rohstoff-Abhängigkeit…
Das hohe Wachstum und das Aufkommen einer kaufkräftigen Mittelschicht im vergangenen Jahrzehnt beruhten im Fall von Brasilien, Russland und Indonesien vor allem auf dem Rohstoffboom, der durch die lockere Geldpolitik der US-Notenbank und der unersättlichen Nachfrage von China und Indien angetrieben wurde.
Die hohe Exportabhängigkeit vom Rohstoffsektor (Russland 80 Prozent, Brasilien über 60 Prozent) ist jedoch bei fallenden Rohstoffpreisen fatal. Genau das könnte im nächsten Jahrzehnt Realität werden, denn mit der lockeren Geld- und Schuldenpolitik des Westens kann es so nicht mehr lange weitergehen, und die Wachstumsraten flachen weltweit ab.
Gesteckte Ziele sind schwer zu erreichen
Dass Russland in den nächsten zehn Jahren das von Goldman Sachs unterstellte ehrgeizige Wachstumsziel von vier bis fünf Prozent erreichen wird, erscheint mir denn auch äußerst zweifelhaft. Auch Brasilien dürfte Probleme bekommen, den von O’Neill gesetzten Maßstäben eines Bric-Landes zu entsprechen. Die Geschichte ist voll von Ländern, deren Wohlstand zeitlich begrenzt war, weil ihre Wirtschaft zu stark von Rohstoffen abhängig war.
… und mangelnde Integration in die globale Wirtschaft
Die Kehrseite der hohen Rohstoffabhängigkeit der Exporte: Solange sich damit relativ leicht Devisen verdienen lassen, um die Importe zu finanzieren, vernachlässigen die Regierungen die internationale Wettbewerbsfähigkeit bei Industrie- und Fertigwaren. Mit der Folge, dass diese Länder meist nur gering in die Weltwirtschaft einbezogen sind und weniger von der internationalen Arbeitsteilung profitieren.
So ist Russland erst jetzt, mehr als zehn Jahre nach China, WTO-Mitglied geworden, seine Industrie gerät jetzt unter Wettbewerbsdruck. Auch Brasilien schützt seine Wirtschaft durch hohe Zölle. Dadurch ist sie international nicht konkurrenzfähig, die Exportquote ist mit etwa zehn Prozent nur unterdurchschnittlich entwickelt.
Mit etwa zwölf Prozent ist auch Indiens Exportquote mager – im Unterschied zum rohstofflastigen Brasilien exportiert Indien immerhin zu zwei Dritteln Industriegüter. Das ist jedoch zu wenig, was sich nicht zuletzt in einem chronischen Leistungsbilanzdefizit, dem größten der vier Bric-Länder, niederschlägt.
Mexiko ist auf dem richtigen Weg
International über eine wettbewerbsfähige Wirtschaft verfügt demgegenüber Südkorea (Exportquote 43 Prozent, davon überwiegend industrielle Produkte). Auf einem guten Weg ist – Überraschung – auch Mexiko, dessen Wahrnehmung in Deutschland, so scheint mir, durch die Horrorberichte über den Drogenkrieg verzerrt ist. Dabei hat das Land etwas vorzuweisen: Es exportiert fast ein Drittel seiner Wirtschaftsleistung, der Anteil der Industriegüter daran vervierfachte sich seit 1985 auf heute 60 Prozent. Der Anteil von Rohöl am Export ist von fast neun Zehntel auf ein Zehntel zurückgegangen.
International schlägt sich auch Exportweltmeister China sehr gut. Das kommunistische Land kommt inzwischen auf eine Exportquote von einem Viertel mit überwiegend Industriegütern. Auf den ersten Blick gilt das ebenfalls für die Türkei mit einer Exportquote von 20 Prozent und einem hohen Anteil von Industriegütern. Das wird jedoch relativiert durch das hohe Leistungsbilanzdefizit von zuletzt fast neun Prozent des BIP. Offenbar ist die Türkei noch nicht auf einem wirklich nachhaltigen Weg, sondern auf ständigen Kapitalimport angewiesen.
Risiko Demografie
Langfristig spielt das Bevölkerungswachstum eine ganz entscheidende Rolle für das Wachstum eines Marktes. Für seine Attraktivität ist nicht nur die absolute Größe der Bevölkerung wichtig, sondern auch die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials. Mit einer prognostizierten Bevölkerung von 44 Millionen wird Südkorea deshalb auch im Jahre 2050 noch ein recht überschaubarer Markt sein. Und selbst wenn es bis dahin mit dem Norden vereint sein sollte, wäre es noch mit Abstand das kleinste unter den betrachteten acht Ländern. Nach der Prognose der HSBC-Bank fällt das Land bis zum Jahr 2050 denn auch um zwei Ränge auf Platz 13 der größten Wirtschaftsnationen zurück.
Wie sich das Humankapital entwickelt
| Geburten- Ziffer* | Arbeitskräfte- potenzial** (%) | Bevölkerung 2050 (Mio.) |
Indien | 2,7 | 0,9 | 1.614 |
Mexiko | 2,3 | 0,2 | 129 |
Indonesien | 2,1 | 0,4 | 288 |
Türkei | 2,1 | 0,5 | 97 |
Brasilien | 1,8 | 0,1 | 219 |
China | 1,7 | -0,3 | 1.417 |
Russland | 1,4 | -0,9 | 116 |
Südkorea | 1,1 | -0,9 | 44 |
*Kinder pro Frau** jährliche Veränderung zwischen 2010 und 2050
Quelle: HSBC, eigene Berechnungen
Russlands Bevölkerung wird in den nächsten 40 Jahren um rund 25 Millionen schrumpfen, Chinas und Brasiliens Bevölkerungszahl wird dagegen noch wachsen, wenn auch langsam.
Russland ist der große Verlierer
Demografisch am besten positioniert sind Indien, Mexiko und Indonesien, die ihre Positionen auf der Rangliste der Wirtschaftsnationen bis zum Jahr 2050 um jeweils fünf Plätze verbessern können, sowie die Türkei, die sogar sechs Plätze gutmacht und an Südkorea vorbeiziehen dürfte – wenn auch mit einer mehr als doppelt so großen Bevölkerungszahl.
Fazit: Der Sieger in allen Kategorien ist, ta ta ta…
…Mexiko, das in keiner einzigen Kategorie Schwächen zeigt, und mit Abstrichen, die Türkei. Verlierer ist Russland, das ohne seinen Rohstoffreichtum wirtschaftlich und ohne seine Atomwaffenarsenale politisch keine Weltmacht wäre. Eine Chance auf Prosperität und Stabilität hat Russland nur bei dauerhaft hohen Rohstoffpreisen.
Positiv positioniert sind auch Indien, Südkorea und China, sofern sie die politischen Risiken managen können. Als rohstoff- und bevölkerungsreiches Land droht Indonesien die Gefahr, den Aufbau einer international wettbewerbsfähigen Wirtschaft zu vernachlässigen. Deshalb würde ich das Land eher im Mittelfeld ansiedeln. Die jüngste Entwicklung Brasiliens sollte eine Warnung sein, was geschieht, wenn die Regierung es unterlässt, das wirtschaftliche Potenzial zu erschließen. Nach meinem Urteil kommt Brasilien deshalb trotz stabiler politischer Verhältnisse und günstiger demografischer Daten nur auf den vorletzten Platz, aber noch weit vor Russland.