Billiglohnland China Wanderarbeiter Wang rebelliert

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Wang Yilai, 27, ist auf dem Weg zu einem Restaurant, einem dieser sündteuren Schuppen, in denen sie westliche Küche servieren. Eigentlich kann er sich das gar nicht leisten, doch der Besitzer ist, wie er sagt, "ein Kunde", und Wang hofft auf einen Rabatt. Angekommen, fläzt sich Wang auf die Ledercouch, ein Arm über der Lehne. Seine Gesten, seine Miene sagen, schau, ich habe es geschafft. Er ist dabei weder arrogant noch großspurig, es fällt leicht, ihn zu übersehen, klein wie er ist, doch hat er etwas Schlaues, Aufmerksames an sich.

Mit seinem eckigen Kopf erinnert er an den Reformer Deng Xiaoping, der es immer wieder aus der politischen Verbannung ins Zentrum des politischen Geschehens schaffte. Er ist wie einer, der beobachtet, wartet und im richtigen Moment zuschlägt. Zehn Jahre Großstadtleben haben Wang nicht reich gemacht. Sein Wohlstand ist bescheiden, auch wenn er am Wochenende manchmal an den Strand fährt und ein schickes Handy besitzt, reicht das Geld oft hinten und vorn nicht. Allein die Miete seiner kleinen Wohnung frisst den größten Teil seines Gehalts. Wang hat etwas anderes, Größeres gewonnen. Doch um das zu verstehen, muss man begreifen, wie weit sein Weg war.

Mit Schlägermob gegen Aufsässige

Wang Yilai war 17 Jahre alt, als er sprang. Sein Bündel packte und den Bus bestieg. Die Mutter weinte, als er seinen Platz zwischen den Reisenden suchte, sie weinte, als der Motor startete, und er sah, wie sie dem Bus hinterherrannte, bis sie in Staub und Ferne verschwand. Mit ihr verschwand das Dorf seiner Kindheit in den Bergen von Hunan, um das die Moderne einen großen Bogen gemacht hatte. Fernsehen hatte er nie geschaut, auch war er nie mit dem Aufzug gefahren. Die Großstadt kannte er nur aus den Erzählungen der Heimkehrer, die beim Neujahrsbesuch von ihren Abenteuern erzählten. Einer nach dem anderen hatten sie den Bus bestiegen, die Jungen, Abenteuerlustigen, Vielversprechenden, weil es in den Dörfern nichts zu tun gab außer schweißtreibender Feldarbeit, die noch keinen aus der Armut geführt hatte.

Als Wang Yilai in Shenzhen ankam, im Jahr 2001, war alles groß und neu und aufregend. Wang hatte gerade die Mittelschule abgeschlossen, auf das, was nun kommen sollte, hatte sie ihn nicht vorbereitet. Anfangs wartete Wang, wann immer er ein Geschäft oder Restaurant betreten wollte, bis sich ein anderer Gast fand, der vor ihm eintrat. Er kopierte Geste für Geste, Wort für Wort, so lernte er langsam, ein Städter zu werden.

Die meiste Zeit aber arbeitete Wang, oder besser: Er schuftete. Von acht Uhr morgens bis zwei Uhr morgens, anfangs für umgerechnet dreißig Euro im Monat, dazu zehn Cent die Überstunde. Mal waren es Metallwaren, dann Lampen und schließlich eine Gießerei. Zehnmal wechselte Wang Yilai die Fabrik. Oft bezahlten die Chefs weit unter Tarif, manchmal gar nicht: Einmal zahlte der Chef den Lohn von Monaten nicht. Als Wang protestierte, jagte der ihm unter den Augen eines lokalen Kaders einen Schlägermob auf den Hals. In einer Gießerei verlor Wang fast einen Finger, der seither deformiert ist. Wang lernte, Lampen zusammenzuschrauben und Metallarmaturen zu fertigen, Formen zu gießen, zu tun, was man ihm sagte. Mit der Zeit lernte Wang aber noch etwas anderes: sich zu wehren.

Nur: Wie macht man das in einem Land, in dem es weder unabhängige Gewerkschaften noch Betriebsräte gibt, ja, in dem die staatliche Gewerkschaft in den Betrieben institutionell auf Seiten des Arbeitgebers steht? In dem die Regierung nichts mehr fürchtet als einen gemeinsamen Aufstand der Arbeiterschaft? In dem es weder Rede- noch Organisationsfreiheit gibt? 1982 wurde das Streikrecht aus der chinesischen Verfassung gestrichen, Streiks sind seither weder legal noch illegal. Damit liegt der Umgang mit Streikenden ganz in der Hand örtlicher Funktionäre. Von ihnen hängt es ab, ob sie die Streikenden gewähren oder wegen öffentlicher Unruhe verhaften lassen. Manche Funktionäre sind tolerant, andere machen Geschäfte mit Firmenbossen, die sich auf keinen Fall gestört sehen wollen. 

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