Billiglohnland China Wanderarbeiter Wang rebelliert

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A Chinese migrant worker Quelle: AP

Es existiert keine einheitliche Linie im Land. Es gibt streikende Arbeiter, die, ungesühnt, von lokalen Schlägermobs verprügelt werden und die im Gefängnis oder Arbeitslager landen. Es gibt solche, denen nichts passiert, ja, die mit ihren Forderungen Erfolg haben. Wer sich wehren will, der muss seine Grenzen austesten.

Wang Yilai wollte bedächtig vorgehen und klug. Es war das Jahr 2008, das Land gab sich ganz dem Olympiafieber hin, und Wang arbeitete in einer Porzellanfabrik. Die Arbeiter waren außer sich, weil der Chef unter zweifelhaften Vorwänden einen großen Teil des Lohns einbehielt, er nannte das "Strafen". Es war auch das Jahr, in dem in China ein neues Arbeitsgesetz erlassen wurde, und auch wenn Wang und seine Kollegen es nie studiert hatten, so wussten sie doch: Arbeiter haben Rechte. Wang wollte einen Streik organisieren, er wollte "eine Sensation".

Streik bis zum Tod

Über eine Nichtregierungsorganisation ließ er sich von einem Anwalt beraten, er legte allen Arbeitern eine Streikliste vor, um zu erfahren, mit wie vielen Streikbrechern er zu rechnen habe. Er rief alle Medien im Umkreis an, doch kein Journalist erschien, als 200 Arbeiter am Abend der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele die Arbeit niederlegten. Wangs Freunde, die in dem Restaurant die Geschichte mithören, verdrehen die Augen. "Du musst die Medien einer anderen Stadt anrufen, die kommen dann, das weiß doch jeder!"

Der Chef drohte, der Chef tobte, der Chef versuchte, Wang mit einem kleinen Vermögen zu bestechen. Nach einer Woche lenkte der Chef ein, ohne den Arbeitern allerdings den einbehaltenen Lohn zurückzahlen zu wollen. Wang und seine Mitstreiter zogen vor Gericht. Das Verfahren dauerte lange, sie hungerten, schließlich streikten sie noch immer und hatten kein Geld. "Da beschlossen wir, zu drastischeren Maßnahmen zu greifen." Sie stiegen aufs Fabrikdach, rissen sich Schuhe und Hemd vom Leib und drohten, sofort in den Tod zu springen. Wenig später bekamen sie ihr Geld.

Wer durch die Städte Dongguan und Shenzhen reist, in denen Millionen Wanderarbeiter leben, der hört inzwischen viele Geschichten wie die von Wang. Da ist der Metallarbeiter, der Dutzende Male vor Gericht zog. Da ist der Sicherheitsmann, der ganze achtzig Mal demonstrierte, weil eine japanische Supermarktkette ihm Geld vorenthielt. Der schließlich bis nach Hongkong reiste, um dort unter großem Medienbuhei in den Hungerstreik zu treten – und sogar Erfolg damit hatte. Die Wanderarbeiter sind nicht organisiert, auch haben sie keinen Anführer. Es gibt nur wenige Internetseiten, auf denen sie sich austauschen können, die meisten werden von Hongkong aus betrieben. Medien berichten oft gar nicht erst von Streiks. Doch all diesen Einschränkungen zum Trotz verbreiten sich Strategien des Protests, vor allem aber die Ahnung: Wir können etwas erreichen. Wanderarbeiter sind mobil, sie wechseln oft die Fabriken und Städte. Und fast jeder von ihnen besitzt mittlerweile ein Handy.

Rechtsanwalt Duan Yi sitzt in einer Hotelbar weit über der Stadt und zündet sich die erste von unzähligen Zigaretten an. Unter ihm breitet sich Shenzhen aus, ein Meer von Hochhäusern, dahinter die Bucht und in der Ferne die Skyline von Hongkong. Shenzhen, Stadt der Glückssuchenden, Stadt, die aus dem Nichts entstand. Nur wenige, die hier leben, sind hier geboren, fast keine Familie ist seit mehr als zwei Generationen ansässig. Duan war einer der ersten Anwälte in China, die eine private Rechtsanwaltskanzlei eröffneten, er machte viel Geld und beschloss dann, dass es Wichtigeres gebe als das. Seither unterstützt er Wanderarbeiter. Duan ist Teil einer kleinen, aber regen Bürgerrechtsbewegung, die sich in den vergangenen Jahren in China gebildet hat. Auf dem Rechtsweg streiten sie für die Anliegen der Kleinen, Armen, Ausgebeuteten, weil sie der Meinung sind, dass sich so nicht nur deren Schicksal, sondern auch das des ganzen Landes verbessere. Duan stößt hörbar den Rauch seiner Zigarette aus. "Jetzt ist ein besonderer Moment für die Wanderarbeiter gekommen."

Er unterteilt das gewaltige Heer der Wanderarbeiter in drei Generationen. Die Ersten waren jene, die in den achtziger und neunziger Jahren in die Städte kamen. Es waren Bauern, die sich dort ein Zubrot verdienten. Zu jener Zeit war das Meldesystem, das jeden Chinesen an seinen Heimatort bindet, sehr streng. Jeder Bürger erhielt nur dort Marken für Essen und Öl, wo er gemeldet war, in der Mangelwirtschaft war das entscheidend. Erst als sich China weiter reformierte und überall Lebensmittel zu kaufen waren, strömten mehr Wanderarbeiter in die Städte. Doch auch jene zweite Generation kehrte immer, wenn es in der Stadt nicht gut lief, auf ihre Äcker zurück. Die Schulbildung der ersten beiden Generationen sei nicht sehr gut gewesen, sagt Rechtsanwalt Duan. Die meisten waren gerade mal auf die Grundschule gegangen, einige waren Analphabeten.

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