Billiglohnland China Wanderarbeiter Wang rebelliert

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Ganz anders die neue, dritte Generation der Wanderarbeiter. Denn mit den Lebensbedingungen hat sich auch die Schulbildung verbessert. Die meisten haben heute die Mittelschule, manche gar die Oberschule besucht, nicht wenige haben eine Ausbildung. Sie sind informiert, gebildet, wissen, wie man moderne Medien gebraucht. Sie haben Träume, Ansprüche, Konsumwünsche. Viele sind in der Stadt aufgewachsen, sind die Kinder von Wanderarbeitern. Mit Landarbeit haben sie nichts am Hut, oft wissen sie gar nicht mehr, wie man Felder bestellt. Ihr Rhythmus ist nicht der der Erde, sondern jener der Fabrik. Aufträge, Produktionszeiten, Weihnachtsgeschäft. Dadurch aber, dass sie nicht wissen, wie man den Boden bestellt, dass sie in Notzeiten nicht auf die Landwirtschaft zurückfallen können, "wird erst diese junge Generation zu wirklichen Arbeitern, Proletariern", sagt Duan. Menschen also, die bereit sind, für ihren Arbeitsplatz, für ihre Rechte zu kämpfen. Sie haben ja nichts anderes.

Die jungen Arbeiter sind zudem wählerisch geworden. Eine Umfrage der chinesischen Gewerkschaft unter 5000 Wanderarbeitern in Shenzhen zeigte, dass diejenigen unter 30 Jahren zweimal so häufig ihre Jobs wechseln wie ihre älteren Kollegen.

Wang zündet sich eine weitere Zigarette an. "In den vergangenen Monaten wurde der Druck auf die Wanderarbeiter immer stärker." Wegen der Wirtschaftskrise froren viele Unternehmen die Löhne ein, gleichzeitig stiegen aufgrund der Inflation die Preise. Beides verschärfte ein drängendes Problem: Diejenigen, die Chinas rasanten Aufstieg überhaupt möglich gemacht haben, nämlich die Wanderarbeiter, haben im Verhältnis besonders wenig davon profitiert. Während sich ihre Produktivität seit 1995 verfünffacht hat, ist ihr Lohn in derselben Zeit nur um das Dreifache gestiegen. Im Verhältnis zum nationalen Reichtum ist ihr Anteil sogar noch zurückgegangen. Waren es 1990 noch 61 Prozent, sind es jetzt nur noch 53 Prozent.

Mitsprache statt Massenprotest

Die Regierung weiß das, und sie fürchtet soziale Proteste mehr als alles andere. Eine geeinte unabhängige Arbeiterorganisation unter einer starken Führung wäre ihr Albtraum – wer wüsste besser um deren Durchschlagskraft als eine kommunistische Partei, die den Mythos der Revolution pflegt? Die Regierung weiß auch, dass sie die Arbeiter zufriedenstellen muss. Und das bedeutet nicht nur Lohnerhöhungen – sie muss dafür sorgen, dass Konflikte innerhalb des Systems gelöst werden können. Wer sein Recht bekommt, hat schließlich keinen Grund mehr, gegen das System auf die Straße zu gehen. Derzeit diskutiert das Provinzparlament in Guangzhou einen Gesetzesentwurf, der es Arbeitern ermöglichen soll, kollektive Lohnverhandlungen mit Arbeitgebern zu führen. Wird er verabschiedet, wäre das nicht weniger als eine Revolution. Und die Löhne werden steigen. "Will die Regierung Massenproteste vermeiden, hat sie nur eine Möglichkeit: den Arbeitern Mitsprache zu gewähren", sagt Duan.

Höhere Löhne für die Arbeiterschaft wären wiederum ganz im Interesse der Regierung. Hat ihr doch die Finanzkrise gezeigt, dass sie ihr Wirtschaftssystem dringend reformieren muss. China litt sehr unter der Krise, weil es sich stets stark auf den Export konzentriert hatte. Und der brach mit den Wirtschaftsproblemen westlicher Industrieländer rapide ein. Um das in Zukunft zu vermeiden, möchte die Regierung den Binnenkonsum stärken – und das heißt vor allem die Kaufkraft der Masse: der Arbeiter.

In Zukunft dürfte sich die Verhandlungsposition der Arbeiter weiter verbessern, denn sie werden weniger. Die Zahl der 15- bis 29-Jährigen wird in den nächsten Jahren aufgrund der Ein-Kind-Politik sinken. Experten streiten darüber, wann der Wendepunkt erreicht sein wird. Wann wird kein Reservoir an potenziellen Wanderarbeitern mehr in den Dörfern warten? Einige glauben, der Moment sei bereits gekommen. Schon jetzt klagt etwa die chinesische Schuhindustrie über einen Mangel an Wanderarbeitern. In Zukunft werden sich Arbeitgeber mehr um ihre Angestellten kümmern müssen.

Wanderarbeiter Wang Yilai wartet noch darauf, dass sein Lohn steigt. Alles zu teuer! Die Miete, das Leben, die Versicherung! Wang seufzt. Es gibt Tage, da sehnt er sich zurück aufs Land. Da stellt er sich vor, wie schön das wäre. Die Familie, die Weite, die Ruhe. Und dann gibt es die Tage, an denen er zweifelt. Es ist erst ein paar Monate her, da wollte ein Freund zurück aufs Land ziehen. Voller Freude kam er in seinem Dorf an, die Mutter rannte ihm entgegen, in der Hand eine Schüssel. Es war nichts weiter, nur eine Schüssel, wie man sie im Dorf zum Füttern der Schweine verwendet. Der Freund aber konnte seine Augen nicht davon lassen. All die Armut, die Entbehrungen, die Rückständigkeit des Landlebens schienen ihm in dieser Schüssel gefangen zu sein. Wenige Tage später war er zurück in der Stadt. Wang seufzt noch mal. Dann schlägt er die Augen auf. "Ach, lasst uns einfach alle an den Strand fahren, ja?"

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