Brasilien Das Duell der Unbeliebten

Die Tage von Brasiliens Präsidentin Rousseff sind gezählt. Der Senat entscheidet ab heute über ihr Schicksal. Doch ihr Nachfolger in spe ist genauso unbeliebt wie sie. Und in den Favelas fürchten sie seine „harte Hand“.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Die suspendierte brasilianische Präsidentin und ihr Vize sind beide beim Volk unbeliebt. Quelle: AFP

Brasilia Michel Temers Hoffnung, dass die Olympischen Spiele dieses zerrissene Land einen, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil, Brasiliens Interimspräsident wurde schon bei der Eröffnungsfeier in Rio gnadenlos ausgepfiffen. Es war nicht zu hören, ob er die XXXI. Sommerspiele überhaupt für eröffnet erklärt hat. Zur Schlussfeier erschien er gar nicht mehr, in den Stadien gab es zuvor während der Spiele immer wieder „Fora Temer!“-Sprechchöre („Temer Raus!“).

Bei Twitter überboten sich der konservative Temer (613.000 Follower) und die infolge seiner Winkelzüge suspendierte Präsidentin Dilma Rousseff (4,82 Millionen Follower) mit Lobesbekundungen für Brasiliens Medaillengewinner. Das politische Duell wird der 75-jährige Jurist, ein begnadeter Strippenzieher, wohl gewinnen.

Dann wären 13 Jahre Regierung unter Führung der Arbeiterpartei (PT) Geschichte, nach Argentinien würde sich auch das größte Land Lateinamerikas verabschieden von einer linken Regierungspolitik.

Rückblick: Temer war seit 2011 Vizepräsident, es war eine politisch ungewöhnliche Allianz mit der linken Rousseff. Seit 2014 lasteten Skandale um Schmiergeldzahlungen bei Auftragsvergaben des Petrobras-Konzerns auf der Regierung. Dazu ein Wirtschaftseinbruch um 3,8 Prozent im vergangenen Jahr, über elf Millionen Arbeitslose. Und Temer sah sich nur als „Dekorationsvize“, Rousseff misstraue ihm.

Im März sahen er und seine Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) die Chance zum Bruch der Koalition mit der Arbeiterpartei. Durch ein Bündnis mit Oppositionsparteien kamen die Mehrheiten für Rousseffs Suspendierung durch Abgeordnetenhaus und Senat zusammen, Temer übernahm mit einer Mitte-Rechts-Regierung im Mai übergangsweise.

Da auch Temer extrem unbeliebt ist, fordert die Mehrheit des Volkes Neuwahlen. Nach der mehrmonatigen juristischen Prüfung kommt der Senat ab Donnerstag zu den entscheidenden Beratungen zusammen, wie in einem Gerichtsprozess tragen in mehreren Sitzungen Anklage und Verteidigung ihre Argumente vor - am Dienstag kommender Woche wird dann final beraten und entschieden. Die nötige Zweidrittel-Mehrheit für Rousseffs Absetzung gilt als sicher. Die PT um Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hofft schon darauf, dass der Verdruss über Temer bis 2018 so groß ist, dass man zurück an die Macht kommen kann.


Rio droht ein dramatischer Sparkurs

Der Vorwurf gegen Rousseff: Bilanztricks im Staatshaushalt, auch um ihre Wiederwahl 2014 zu sichern. Über staatliche Banken wie die Banco do Brasil werden Sozialprogramme wie die Familiensozialhilfe bezahlt. Die Regierung soll Milliardenzahlungen an die Banken verzögert haben, um das Defizit geringer erscheinen zu lassen. Zum anderen geht es um Dekrete für milliardenschwere Staatskredite, die ohne Zustimmung des Kongresses erlassen worden seien. Ähnliches passierte schon unter Vorgängerregierungen, reicht das also für eine Amtsenthebung? Rousseff hält die Gründe für vorgeschoben, sie sieht einen „Putsch“.

Rousseff hat Olympia noch mit organisiert, Temer versucht nun, mit Gastbeiträgen den zumindest in Brasilien so empfundenen Erfolg der Spiele für sich zu reklamieren. In den Medien werden die Spiele trotz aller Widrigkeiten als gelungen gelobt, gemessen an den Befürchtungen im Vorfeld. Der Kolumnist Danial Buarque von der Zeitung „Folha de S. Paulo“ meint, das helfe, die Reputation im Ausland wiederherzustellen - die durch das politische Chaos enorm gelitten hat. Aber in Erinnerung bleibt auch das Ausbuhen der Gegner - frustriert von der politischen und ökonomischen Krise nutzten Brasilianer den Sport als Ventil, um Erfolgserlebnisse heimischer Olympioniken herbeizuschreien. Mit sieben Goldmedaillen wurde eine historische Bestmarke aufgestellt.

Doch Rio, ohnehin fast pleite, droht ein dramatischer Sparkurs, die Bürger fürchten weniger Mittel für die Polizei und mehr Überfälle sowie einen Krankenhaus-Notstand. Temer will mehr privatisieren, Investoren zurück in das fünftgrößte Land der Welt locken, das Renteneintrittsalter hochsetzen, den Staatsapparat entschlacken.

Aber auch auf ihm und seiner Partei lasten Korruptionsvorwürfe. Wie zerrissen das Land ist, zeigt sich schon in Rio: An der Copacabana sehen nicht wenige in einer Militärregierung die beste Lösung, um Korruption und Unsicherheit in den Griff zu bekommen. Rousseff ist als „Kommunistin“ verhasst, Temer zumindest das kleinere Übel.

In der seit Wochen von Schießereien zwischen Polizei und Drogengangs erschütterten Favela Complexo do Alemão trauern sie jetzt schon den Sozialprogrammen der PT hinterher. Eine Seilbahn, die Fußmärsche den Berg hinauf erspart, wurde noch von Rousseff eröffnet. „Temer wird mehr auf Repression statt auf die ausgestreckte Hand setzen“, sagte der Favela-Bewohner Cleber Araujo. Er fürchtet unruhigere Zeiten.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%