Brexit Großbritannien droht Ärger von allen Seiten

Zum ersten Mal beantragt ein Land den Austritt aus der Europäischen Union. Doch die Arbeit geht dann erst richtig los. Die schwierigen Verhandlungen mit der EU sind dabei nicht Großbritanniens größtes Problem.

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Die britische Premierministerin Theresa May beim Unterzeichnen der Austrittserklärung aus der EU. Quelle: dpa

London Neun Monate nach dem Brexit-Referendum wird es ernst: Einsam vor dem Union Jack unterschrieb Premierministerin Theresa May am Dienstagabend den Brief, der offiziell den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union einleitet. Sobald die Papiere am Mittwoch in Brüssel sind, beginnt das auf zwei Jahre angelegte Scheidungsdrama. Für die EU ist es ein bitterer Tag – erstmals überhaupt kehrt ihr ein Mitglied den Rücken. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nennt es eine Tragödie.

Bis dieses Stück im März 2019 über die Bühne ist, wartet auf die Protagonisten viel Arbeit, und der Applaus am Ende ist keineswegs garantiert. Brüssel und London stehen vor einem Wust von knapp 21.000 EU-Regeln und Gesetzen, die bisher in allen 28 Ländern gelten und damit auch im Vereinigten Königreich. Vor allem aber müssen sie eine Handvoll hochkomplexer Themen lösen, die beide Seiten ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Darunter sind die Rechte der EU-Ausländer in Großbritannien und der Briten auf dem Kontinent. Rund 3,2 Millionen leben im Königreich, fast ein Drittel sind Polen. Arbeitserlaubnis und Renten – über solch existenziell wichtigen Fragen will London schnell verhandeln, falls den etwa eine Million Briten in Kontinentaleuropa vergleichbare Garantien gegeben werden. Viele britische Unternehmen fürchten um ihre billigen Arbeitskräfte wie Maurer und Zimmermädchen.

Apropos Geld: Großbritannien könnte von der EU noch eine Rechnung über bis zu 60 Milliarden Euro präsentiert bekommen. Gemeinsam eingegangene Verpflichtungen etwa für den EU-Haushalt müssten von London anteilig beglichen werden, hieß es in Brüssel. May konterte: Beim Referendum hätten die Briten nicht dafür gestimmt, solche Geldsummen an die EU zu zahlen. Nach einem britischen Gutachten kommt London kostenlos davon, wenn Großbritannien ungeregelt aus der EU ausscheidet. Der „Financial Times“ zufolge gibt es von britischer Seite Hinweise, dass May hier etwas einlenken könnte.

EU-Unterhändler Michel Barnier warnt vor einem Abschied ohne gütliche Einigung, die Bürger und Unternehmen ins Ungewisse entließe. Auch die von London gewünschte „besondere“ Beziehung mit den 27 verbliebenen EU-Ländern stünde dann wohl auf dem Spiel.

Bis Herbst 2018 soll der Deal fertig sein. Im Frühjahr 2019 wird Großbritannien ausscheiden. So sieht es der Artikel 50 des Vertrages von Lissabon vor. Der liefert zwar den Rahmen, aber keine Details und ist noch nie angewandt worden. Unbekanntes Terrain also. Barnier beschrieb die Linie der EU so: „Wir werden entschieden sein, wir werden freundlich sein, wir werden niemals naiv sein.“

Aber nicht nur von der EU pfeift May mächtig Gegenwind auf dem ohnehin schwierigen Weg entgegen – auch im eigenen Land. In Schottland und in der Ex-Bürgerkriegsregion Nordirland nimmt der Ärger zu. Beide Landesteile stimmten mehrheitlich gegen den Brexit.


Schottland will die Unabhängigkeit

Als May verkündete, dass sie einen harten Brexit – also auch den Ausstieg aus dem Europäischen Binnenmarkt wolle – war das Maß für die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon voll. Sie will einen Sonderweg: Schottland soll zumindest im Europäischen Binnenmarkt bleiben. Das lehnt May ab. Beide Politikerinnen schalteten auf stur.

Die Folge: Das schottische Parlament stimmte Dienstagabend für eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von Schottland. Dieses Referendum will Sturgeon vor dem Brexit abhalten, May danach. London muss für die Abstimmung grünes Licht geben. Eine vertrackte Lage. Sturgeon rief die Brexit-Gegner zum Umzug nach Schottland auf: „Kommt hierher, um zu leben, zu arbeiten, zu investieren oder zu studieren!“

Auch die meisten Nordiren halten nichts vom Brexit und kämpfen zudem mit starken Spannungen und einer Regierungskrise im eigenen Landesteil. Vor allem die neue EU-Außengrenze zur Republik Irland, die der Brexit mit sich bringt, könnte laut Konfliktforschern den Frieden bedrohen: Der Handel auf der Insel wird erschwert und eine feste Grenze mit Kontrollen reißt womöglich alte Wunden in der Ex-Bürgerkriegsregion auf. Im Nordirland-Konflikt kämpften proirische Katholiken gegen probritische Protestanten. Tausende Menschen starben.

Geschlossenheit zeigte Großbritannien seit dem Brexit-Referendum wohl nur an einem einzigen Tag: als ein Terroranschlag in der vergangenen Woche das Land erschütterte. Die Bilanz des Blutbads vor dem Londoner Parlament: fünf Tote, darunter der Attentäter, und etwa 50 Verletzte. Doch selbst da mischte sich unter den Trauerbekundungen am Zaun des Parlaments das eine oder andere Bekenntnis zur Europäischen Union.

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