Brexit Machtspiel um Europas Schicksal

Die britische Brexit-Debatte gerät in schwieriges Fahrwasser. Sie wird zu einem Wahlkampf zweiter Tory-Alphatiere: David Cameron und Boris Johnson. Was die EU tun muss, um ein Drama zu verhindern. Ein Kommentar.

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Auf diesem Foto von 2012 posieren sie schon wie zwei Duellanten: Boris Johnson (l.) und David Cameron. Quelle: AFP

London Verhandlungserfolge sind eine süße Frucht, die allerdings schnell einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen kann. Dies ist eine Erkenntnis, die nun auch David Cameron macht. Am Wochenende ließ sich der britische Premierminister nach dem Kompromiss in Brüssel noch als mannhafter Sieger feiern und trommelte mit breiter Brust für eine Entscheidung für den EU-Verbleib, wenn die Briten am 23. Juni über die historische Frage abstimmen, ob sie als erstes Land freiwillig aus der Gemeinschaft ausscheiden wollen.

Doch inzwischen dürfte Cameron schmerzhaft bewusst geworden sein, wie riskant sein politisches Spiel ist. Denn mit Boris Johnson, dem ungemein beliebten Bürgermeister von London, als neuem Anführer der Brexit-Kampagne haben die Gegner der EU-Zugehörigkeit nun endlich das bekommen, was ihnen bisher fehlte: einen eloquenten und beliebten Politiker an ihrer Spitze, der sich offen gegen den eigenen Parteichef stellt – und der ein politisches Schwergewicht ist.

Es ist ein gefährliches Zerwürfnis – das weit über die konservative Partei hinaus an Bedeutung hat. Denn für die Debatte auf der Insel kann das nichts Gutes bedeuten. Viele Briten werden nun den Eindruck gewinnen, sie stimmten nicht nur über die EU-Mitgliedschaft, sondern auch über den nächsten Premier ab. Denn die Unterstellung ist nicht weit hergeholt, dass es, wie dem Premier, auch Johnson in der Debatte nicht allein um die Sache, sondern vor allem um Machtfragen geht.

Das Kalkül dabei ist klar: Scheitert Cameron mit dem EU-Referendum, dürften seine Tage in der Downing Street No. 10 gezählt sein, auch wenn der Premier diese Vorstellung wortreich von sich weist. Doch wäre Johnson als erfolgreicher Triumphator einer Brexit-Kampagne seinem großen Ziel einen großen Schritt näher gekommen: Cameron als Premier nachzufolgen.

Wird eine Volksabstimmung, die er eigentlich nie wollte, Cameron nun zum Verhängnis? Es könnte die bittere Pointe eines britischen Machtkampfes sein, bei dem das Drama um die EU von Anfang an vor allem für die heimische Kulisse inszeniert worden war. Schon 2005 in Blackpool, als Cameron überraschend Parteichef wurde, war sein Versprechen, seine Partei in Brüssel aus dem Verbund der europäischen konservativen Parteien zu führen, vor allem ein Geschenk an die parteiinternen Euroskeptiker.

Auch 2013, als er sich gezwungen sah, ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen, war das vor allem der Versuch, die internen Kritiker zu besänftigen. Es ist ein Mangel an Leidenschaft für Europa und diese Haltung müsste Cameron rasch ändern. Denn ihm bleibt bis Sommer nicht viel Zeit, um das Versäumte noch aufzuholen – vor allem, wenn er gegenüber dem begnadeten Rhetoriker Johnson bestehen muss.


Der Riss in Camerons Regierungspartei

Einfach wird die Überzeugungsarbeit für Cameron in den nächsten Monaten deshalb nicht. Zumal der tiefe Riss in dieser für Europa existenziellen Frage sich nicht nur durch die britische Bevölkerung, sondern auch durch die eigene Regierungspartei zieht.

Neben Johnson bekannte sich mit Justizminister Michael Gove auch ein enger Parteifreund von Cameron als Fürsprecher der „Leave“-Kampagne. Der britische Premierminister wird deshalb in Europas Schicksalsfrage in den nächsten Wochen und Monaten stärker als je zuvor Farbe bekennen – und deutlich sagen müssen, wo er die Zukunft des Landes sieht. Unabdingbar ist eine offene und ehrliche Grundsatzdiskussion auf der Insel um den Zweck und Sinn einer britischen Zugehörigkeit zur Europäischen Union – und kein versteckter Personenwahlkampf zwischen zwei Tory-Alphatieren.

Denn sonst droht ein riskantes Machtspiel um Europas Schicksal – mit ungewissen Ausgang für den Rest des Kontinents. Mag Cameron seinen EU-Kollegen in Brüssel mit seinen Forderungen auch gehörig auf die Nerven gegangen sein – die Europäische Union steht trotzdem weiter in der Pflicht. Denn die meisten Briten werden Ende Juni, wenn sie über einen EU-Verbleib abstimmen und sich denn einmal den Sachargumenten zuwenden, kaum im Detail die jetzt erzielten Verhandlungsergebnisse ansehen.

Sie werden sich statt dessen wohl die grundsätzliche Frage stellen, ob sie dieser Europäischen Union künftig weiter angehören wollen – und die Antwort darauf dürfte in erster Linie von dem Bild und dem Zustand beeinflusst werden, in dem sich die Union der 28 Staaten dann präsentiert. Der EU-Gipfel in Brüssel in der vergangenen Woche machte dafür allerdings nur begrenzt Hoffnung.

Zwar rauften sich die Regierungschefs zusammen und erzielten ein Ergebnis. Aber der Weg dahin war erneut von Erpressungsversuchen, dem Verfolgen von Partikularinteressen und lautem Gezänk gesäumt. Das ist jedoch kein gutes Omen für die Lösung eines anderen gravierenden Problems der EU: der Flüchtlingskrise.

Sollte der Staatenbund dieses Thema jedoch bis zum Sommer nicht in den Griff bekommen, hat nicht nur Deutschlands „Wir schaffen das“-Kanzlerin und Cameron mit seinem Referendum ein ernsthaftes Problem – sondern ganz Europa. Die Union sollte deshalb möglichst schon auf dem bevorstehenden Türkei-Gipfel ein weiteres deutliches Zeichen setzen dafür, dass sie durchaus begriffen hat, dass das Wort Gemeinschaft ganz wörtlich auch für Werte steht: Zusammenhalt und Gemeinsinn. Sonst könnte dem europäischen Staatenbund mehr entgleiten als nur Großbritannien.

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