Brexit-Notizen abfotografiert Kleiner Einblick in einen großen Plan?

Wenn Angestellte den britischen Regierungssitz verlassen, müssen sie ihre Dokumente unsichtbar verstauen. Eine Mitarbeiterin ignorierte den Hinweis – und gab so einen Einblick in geheime Brexit-Dokumente der Regierung.

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Wer diese Tür verlässt, sollte gut aufpassen, was er preisgibt – Medienberichten zufolge warnt ein Schild: „Stop! Sind deine Dokumente sichtbar?“ Eine Mitarbeiterin jedoch las offenbar darüber hinweg. Quelle: Reuters

London Die Seite des Notizbuchs ist dicht beschrieben. Einige Aussagen sind teilweise umrahmt, andere nur halb zu lesen, weil ein Arm sie verdeckt. Es sind handgeschriebene Aufzeichnungen einer Mitarbeiterin eines konservativen Parlamentariers. Sie kommt gerade aus dem Brexit-Ministerium und geht zu einem Treffen in 10 Downing Street, dem Sitz von Großbritanniens Premierministerin Theresa May, als ein Fotograf auf den Auslöser drückt und diese Notizen in Großaufnahme festhält. Diese Momentaufnahme von Montag gibt einen kleinen Einblick in die regierungsinternen Brexit-Diskussionen.

Wesentlicher Teil des Plans scheint zu sein: „Have the cake and eat it“, was soviel suggeriert wie „die Vorteile der EU zu behalten, ohne die Nachteile in Kauf nehmen zu müssen“. Ein Abkommen mit der Staatengemeinschaft über Dienstleistungen könnte schwierig sein, heißt es an einer anderen Stelle, weil die Franzosen auf einen Teil des britischen Geschäfts hofften. Und weiter: Im europäischen Binnenmarkt zu bleiben, sei wohl unwahrscheinlich. Man strebe eher ein Modell nach dem Vorbild des Handelsabkommens mit Kanada an, das allerdings darüber hinausgehen solle.

Offiziell hält sich die Regierung auch fünf Monate nach dem Referendum mit ihren Brexit-Plänen zurück. Theresa May hat bisher nur signalisiert, dass sie den Zugang zum Binnenmarkt aufzugeben bereit ist, um die Einwanderung kontrollieren zu können. Umso größer ist daher das Interesse, wenn solche regierungsinternen Notizen öffentlich werden – auch wenn ein Mitarbeiter der Regierung ihre Bedeutung herunterspielte: Das sei kein offizielles Regierungsdokument, sagt er britischen Medien, und die Notizen würden nicht die offizielle Brexit-Verhandlungsposition Großbritanniens wiedergeben.

In dem Gespräch, bei dem die Mitarbeiterin eines Abgeordneten sich Notizen machte, ist offenbar auch ein Thema angesprochen worden, das vor allem Banken und auch anderen Unternehmen wichtig ist: eine möglichst lange Übergangszeit, um sich nach dem Abschluss der offiziellen Austrittsgespräche zwischen London und Brüssel besser auf die Änderungen einstellen zu können, die der Brexit mit sich bringt. Man sei aber abgeneigt, sich auf Übergangslösungen einzustellen, heißt es in den Aufzeichnungen. Offenbar gibt es die Befürchtung, dass die Sache dann länger Bestand hat als eigentlich gewollt.

Um Fotos solcher regierungsinternen Notizen zu verhindern, ist Medienberichten zufolge an der Ausgangstür des Brexit-Ministeriums ein Zettel angebracht – mit der Warnung: „Stop! Sind deine Dokumente sichtbar?“ Die Mitarbeiterin des Abgeordneten, deren Aufzeichnungen fotografiert wurden, hat diese Frage offenbar ignoriert.

Die handgeschriebenen Aufzeichnungen haben erneut Kritik an der Regierung ausgelöst. Sie habe keine Ahnung, wie ein Brexit eigentlich aussehen solle, sagte Steven Gethins von der schottischen Nationalpartei SNP. Beunruhigend sei vor allem, dass die Regierung einen Übergangsdeal jetzt schon ablehne, bevor die Verhandlungen mit der EU überhaupt angefangen hätten.


„Wenn das eine Strategie ist, ist sie inkohärent“

Auch Tim Farron, Chef der Liberaldemokraten, kritisierte: „Wenn das eine Strategie ist, dann ist sie inkohärent“, sagte er britischen Medien. Man könne nicht die Vorteile der EU genießen, ohne die Nachteile in Kauf zu nehmen.

Premierministerin May will bisherigen Plänen zufolge die offiziellen Austrittsverhandlungen mit Brüssel bis Ende März 2017 in Gang setzen. Der Oberste Gerichtshof wird voraussichtlich Anfang nächsten Jahres entscheiden, ob sie dafür die Zustimmung des Parlaments braucht, was May eigentlich verhindern will.

May lehnt es bisher auch ab, mehr Details ihrer Brexit-Pläne offenzulegen. Denn das würde ihre Verhandlungsposition schwächen und ihren Spielraum zu sehr einengen, sagte sie. Das alarmiert allerdings eine Reihe von Brexit-Kritikern, die einen so genannten „harten Brexit“ befürchten – einen radikalen Bruch mit der EU, der enorme Nachteile für die britische Wirtschaft mit sich bringen könnte.

Ehemalige Premierminister wie Tony Blair und John Major melden sich daher zurück und machen sich für ein zweites Referendum stark. Die britische Bevölkerung solle die Möglichkeit bekommen, über einen konkreten Brexit-Deal abzustimmen und sich so möglicherweise im zweiten Anlauf am Ende doch gegen einen Austritt zu entscheiden. Der Brexit könne abgewendet werden, sagte Blair dem Magazin „New Statesman“, wenn die Briten nach einer Kosten-Nutzen-Analyse zu dem Schluss kommen sollten, dass sich die Sache nicht rechne.

Auch die britische Denkfabrik „British Influence“ setzt sich dafür ein, einen Teil der Vorteile der EU-Zugehörigkeit möglichst zu retten – allen voran den Zugang zum Binnenmarkt, der in Mays Prioritätenliste hinter den Einwanderungskontrollen steht. Der pro-europäische Think-Tank argumentiert, dass Großbritannien durch einen EU-Austritt nicht automatisch auch den für die Wirtschaft so wichtigen Zugang zum Binnenmarkt verliert, wenn das Land diesen nicht separat aufkündigt. „British Influence“ will das vor Gericht klären lassen. Die Regierung widerspricht dieser Argumentation und betont, mit dem EU-Austritt Ende verliere auch das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum für Großbritannien seine Gültigkeit und damit ende der Zugang zum Binnenmarkt.

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