EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte den Ton schon vor Wochen gesetzt. Dissidenten würden nicht mit offenen Armen empfangen, sagte er. Den Briten bedeutete er damit, dass sie sich auf harte Verhandlungen einstellen müssten, wenn sie sich für einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) entscheiden sollten. Am Freitag blieb er bei seiner Linie. Gemeinsam mit dem Präsidenten des Rats, Donald Tusk, und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, pochte er darauf, dass die britische Regierung “so schnell wie möglich” die Konsequenz aus dem Referendum ziehen müsste. “Jede Verzögerung würde unnötig die Unsicherheit verlängern”, so die drei Präsidenten in ihrer gemeinsamen Erklärung.
Dass die Brüsseler Führungsspitze so drängt, hat damit zu tun, dass David Cameron angedeutet hat, dass sich die britische Seite erst einmal Zeit nehmen will, ehe sie in Brüssel offiziell einen Antrag auf Austritt stellen wird. Cameron will dies seinem Nachfolger überlassen, der wahrscheinlich im Oktober antritt. Einer der aussichtsreichen Kandidaten, Brexit-Befürworter Boris Johnson, betonte am Freitag auch es gebe “keine Eile”, die Prozedur nach Artikel 50 des EU-Vertrags in Gang zu setzen, damit Großbritannien aus der Union entlassen wird.
Die Briten haben einen guten Grund für ihre gemächliche Gangart: Wenn ihren Wunsch zum Austritt einmal offiziell angemeldet haben, dann läuft die Uhr. Die Austrittsverhandlungen dürfen dann nur zwei Jahre dauern. Sie könnten theoretisch um ein Jahr verlängert werden, aber dem müssten alle anderen 27 EU-Mitgliedsstaaten zustimmen – was eher unwahrscheinlich ist. Zwei Jahre, das sagen Experten übereinstimmig, ist ein knappes Zeitfenster für die Scheidungsverhandlungen.
Unterstützung bekommen die Briten von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die schlug am Freitag einen relativ konzilianten Ton an und mahnte zu einem überlegten Vorgehen. Die Europäer müssen sich nun überlegen, wie sie die bevorstehende Herkulesaufgabe angehen. Diejenigen, die ein schnelles, hartes Vorgehen gegenüber den Briten fordern, setzten auf einen Abschreckungsseffekt. Sie wollen an den Briten ein Exempel statuieren, damit kein anderer EU-Staat auf den Gedanken kommt, die Union zu verlassen. Merkel hat eine andere Priorität. Sie will das Verhältnis zu Großbritannien retten, soweit es zu retten ist. Ein abstrünniges Clubmitglied zu bestrafen, liegt ihr völlig fern. Sie, die die Dinge von hinten denkt, warnt vor einem überstürzten Vorgehen.
In den europäischen Regierungszentralen und den Brüsseler Chefetagen ist allen Beteiligen bewusst, dass die weitere Entwicklung der Europäischen Union von der Reaktion abhängt auf die Zäsur, die der Brexit für Europa bedeutet. Zeigt sich Europa in den kommenden Tagen und Wochen einmal mehr zerstritten, hat das Projekt des vereinten Kontinents wenig Zukunft.
Einen ersten Hinweis auf das Maß an Einheit, das die Staats- und Regierungschefs finden können, wird der EU-Gipfel am kommenden Dienstag und Mittwoch bieten. Brüssel und die Regierungszentralen wären gut beraten, bis dahin eine gemeinsame Linie zu finden. Offener Streit wäre die denkbar schlechteste Voraussetzung für einen geordneten Brexit.
Experten in der EU-Kommission gehen davon aus, dass die Verhandlungen Großbritanniens, die auf die Trennungsverhandlungen folgen, zehn Jahre dauern werden. Unabhängige Juristen halten das für eine optmistische Schätung angesichts der Vielzahl von Problemen, die gelöst werden müssen. Angesichts dieses Zeithorizont wäre es tatsächlich sinnvoll, die Gespräche nicht zu überstürzen.
Die Tonlage der kommenden Tage wird einen nützlichen Hinweis geben, in welcher Atmosphäre die Gespräche mit den Briten laufen werden. Und wie lange es die Union noch geben wird.