Brexit Rest-Europa streitet um den Umgang mit abtrünnigen Briten

Schnell rauswerfen oder geduldig verhandeln, damit die Beziehung doch noch irgendwie gerettet werden kann? Brüssel und die verbleibenden 27 EU-Staaten sich noch nicht einig, wie sie mit Großbritannien umgehen sollen. Die EU hat aber nur eine Zukunft, wenn sie mit einer Stimme spricht.

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Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte den Ton schon vor Wochen gesetzt. Dissidenten würden nicht mit offenen Armen empfangen, sagte er. Den Briten bedeutete er damit, dass sie sich auf harte Verhandlungen einstellen müssten, wenn sie sich für einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) entscheiden sollten. Am Freitag blieb er bei seiner Linie. Gemeinsam mit dem Präsidenten des Rats, Donald Tusk, und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, pochte er darauf, dass die britische Regierung “so schnell wie möglich” die Konsequenz aus dem Referendum ziehen müsste. “Jede Verzögerung würde unnötig die Unsicherheit verlängern”, so die drei Präsidenten in ihrer gemeinsamen Erklärung.
Dass die Brüsseler Führungsspitze so drängt, hat damit zu tun, dass David Cameron angedeutet hat, dass sich die britische Seite erst einmal Zeit nehmen will, ehe sie in Brüssel offiziell einen Antrag auf Austritt stellen wird. Cameron will dies seinem Nachfolger überlassen, der wahrscheinlich im Oktober antritt. Einer der aussichtsreichen Kandidaten, Brexit-Befürworter Boris Johnson, betonte am Freitag auch es gebe “keine Eile”, die Prozedur nach Artikel 50 des EU-Vertrags in Gang zu setzen, damit Großbritannien aus der Union entlassen wird.
Die Briten haben einen guten Grund für ihre gemächliche Gangart: Wenn ihren Wunsch zum Austritt einmal offiziell angemeldet haben, dann läuft die Uhr. Die Austrittsverhandlungen dürfen dann nur zwei Jahre dauern. Sie könnten theoretisch um ein Jahr verlängert werden, aber dem müssten alle anderen 27 EU-Mitgliedsstaaten zustimmen – was eher unwahrscheinlich ist. Zwei Jahre, das sagen Experten übereinstimmig, ist ein knappes Zeitfenster für die Scheidungsverhandlungen.

"Wir müssen Europa entgiften"
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien muss Europa aus Sicht von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine „massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der Europäischen Union, sagte der Vizekanzler am Samstag in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Ob sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland in Zukunft weiter positiv entwickle, hänge entscheidend davon ab, ob Europa „stabil und kräftig“ bleibe. Gabriel betonte, Deutschland sei „Nettogewinner“ und nicht „Lastesel der Europäischen Union“, wie oft behauptet werde. Der Blick der Welt auf Europa werde sich ohne Großbritannien in der EU verändern. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute - das sei „verheerend“, betonte Gabriel. „Da geht die Idee Europas verloren“ - und das erzeuge Wut und Verachtung. Der Zorn richte sich gegen das „Sparregime aus Brüssel“ und oft ebenfalls gegen Berlin. Klar sei daher, „dass wir Europa entgiften müssen“. Die EU sei von Anfang an auch als „Wohlstandsprojekt“ gedacht gewesen. Das gehöre dringend wieder stärker in den Fokus. Die EU-Schuldenländer brauchten mehr Freiraum für Investitionen in Wachstum, Arbeit und Bildung, forderte Gabriel. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat den britischen Premierminister scharf kritisiert. Auf die Frage, was er davon halte, dass David Cameron erst im Oktober zurücktreten will, warf Schulz dem Premier vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen erneut einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“. dpa dokumentiert den Wortlaut: „Offen gestanden: Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens. Er hat vor drei Jahren, als er in seiner Partei unter Druck stand, den Radikalen am rechten Rand der Tories gesagt: Ich gebe Euch ein Referendum, dafür wählt Ihr mich wieder. Das hat geklappt. Da wurde ein ganzer Kontinent verhaftet für seine parteiinternen taktischen Unternehmungen. Jetzt ist das Referendum gescheitert. Jetzt sagt der gleiche Premierminister, ja, Ihr müsst aber warten, bis wir (...) mit Euch verhandeln, bis der Parteitag der Konservativen im Oktober getagt hat. Dann trete ich zurück, dann gibt's einen neuen Parteichef, der wird dann Premierminister. Also ehrlich gesagt: Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will. Ich finde das schon ein starkes Stück, das der Herr Cameron mit uns spielt.“ Quelle: dpa
Obama, Brexit Quelle: AP
Putin, Brexit Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: REUTERS
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erklärt, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. In einer vom Präsidialamt am Freitag in Lissabon veröffentlichten Erklärung betonte das 67 Jahre alte Staatsoberhaupt aber auch: „Das Europäische Projekt bleibt gültig.“ Allerdings sei es „offensichtlich“, so Rebelo de Sousa, dass „die Ideale (der EU) neu überdacht und verstärkt“ werden müssten. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Quelle: dpa


Unterstützung bekommen die Briten von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die schlug am Freitag einen relativ konzilianten Ton an und mahnte zu einem überlegten Vorgehen. Die Europäer müssen sich nun überlegen, wie sie die bevorstehende Herkulesaufgabe angehen. Diejenigen, die ein schnelles, hartes Vorgehen gegenüber den Briten fordern, setzten auf einen Abschreckungsseffekt. Sie wollen an den Briten ein Exempel statuieren, damit kein anderer EU-Staat auf den Gedanken kommt, die Union zu verlassen. Merkel hat eine andere Priorität. Sie will das Verhältnis zu Großbritannien retten, soweit es zu retten ist. Ein abstrünniges Clubmitglied zu bestrafen, liegt ihr völlig fern. Sie, die die Dinge von hinten denkt, warnt vor einem überstürzten Vorgehen.
In den europäischen Regierungszentralen und den Brüsseler Chefetagen ist allen Beteiligen bewusst, dass die weitere Entwicklung der Europäischen Union von der Reaktion abhängt auf die Zäsur, die der Brexit für Europa bedeutet. Zeigt sich Europa in den kommenden Tagen und Wochen einmal mehr zerstritten, hat das Projekt des vereinten Kontinents wenig Zukunft.


Einen ersten Hinweis auf das Maß an Einheit, das die Staats- und Regierungschefs finden können, wird der EU-Gipfel am kommenden Dienstag und Mittwoch bieten. Brüssel und die Regierungszentralen wären gut beraten, bis dahin eine gemeinsame Linie zu finden. Offener Streit wäre die denkbar schlechteste Voraussetzung für einen geordneten Brexit.
Experten in der EU-Kommission gehen davon aus, dass die Verhandlungen Großbritanniens, die auf die Trennungsverhandlungen folgen, zehn Jahre dauern werden. Unabhängige Juristen halten das für eine optmistische Schätung angesichts der Vielzahl von Problemen, die gelöst werden müssen. Angesichts dieses Zeithorizont wäre es tatsächlich sinnvoll, die Gespräche nicht zu überstürzen.
Die Tonlage der kommenden Tage wird einen nützlichen Hinweis geben, in welcher Atmosphäre die Gespräche mit den Briten laufen werden. Und wie lange es die Union noch geben wird.

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