Bundestags-Gutachten Wie der Brexit Europas Sicherheit bedroht

Großbritannien spielt im Anti-Terror-Kampf eine wichtige Rolle. EU-Länder können auf britische Geheimdienstinformationen über bestimmte Datenbanken zugreifen. Mit dem Brexit könnte diese Quelle jedoch versiegen.

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Durch den EU-Austritt Großbritanniens verliert Europa einen wichtigen Partner im Anti-Terror-Kampf. Quelle: dpa

Berlin Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich ausgerechnet ein Brite als Vertreter der EU-Kommission um Projekte im Bereich Sicherheit und Terrorbekämpfung kümmert, wo sich doch Großbritannien entschieden hat, der EU den Rücken zu kehren. Und der Brexit tiefgreifende Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Europa nach sich ziehen könnte.

Der Grund ist, dass die Briten ihre Ermittlungserkenntnisse nicht mehr über die einschlägigen Datenbanken anderen EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen und im Gegenzug auch deren Daten nicht mehr nutzen können. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, das dem Handelsblatt vorliegt.

Ob das Thema auch heute eine Rolle spielen wird, wenn sich der Kommissar für die Sicherheitsunion, Sir Julian King, in Berlin mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) treffen wird?

Fakt ist: King wird das hiesige Terror-Abwehrzentrum besuchen. Und dabei will er, wie er der Zeitung „Die Welt“ sagte, auch darüber sprechen, „was wir tun können, um die Sicherheit in Europa zu erhöhen“.  Konkret plädiert King dafür, zu „einem normalen Schengen“ zurückzukehren, das den Schutz durch sichere Außengrenzen gewährleistet. Er räumt zwar ein, dass es hier Bedenken gebe. Aber, fügt er hinzu: „Wir brauchen eine Diskussion darüber, was man im Schengen-Raum unternehmen kann, um terroristischen Bedrohungen über Binnengrenzen hinweg zu begegnen, etwa mit besseren Polizeikontrollen.“

Was King theoretisch vorschwebt, dürfte in der Praxis jedoch keinen Niederschlag finden auf die bisherige Sicherheitspartnerschaft zwischen dem europäischen Kontinent und dem Vereinigten Königreich. Denn das Gutachten der Bundestagsjuristen legt nahe, dass mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union der EU wohl auch ein wichtiger Verbündeter im Anti-Terror-Kampf verloren geht.

Konkret geht es um die europaweite Fahndungsdatenbank Schengener Informationssystem (SIS II), auf das die Sicherheitsbehörden von 27 Schengen-Staaten sowie Europol, Eurojust und die nationalen Staatsanwaltschaften Zugriff haben. Großbritannien ist über eine spezielle Opt-in-Klausel eingebunden, die allerdings durch den Brexit keine Gültigkeit mehr hätte. „Die Beteiligung des Vereinigten Königreichs am SIS II, die derzeit auf der EU-Mitgliedschaft beruht, würde durch den Austritt beendet, wenn keine Übergangsregelungen vereinbart werden“, heißt es in der Expertise.


Europol soll mehr Kompetenzen erhalten

Zwar haben auch Nicht-EU-Mitglieder, etwa die Schweiz, Zugriff auf SIS II - allerdings nur, weil sie, anders als Großbritannien, dem Schengen-Raum angehören. Aus Sicht der Experten „erscheint es schwierig, das Vereinigte Königreich in das SIS II einzubinden, ohne dass zumindest eine Schengen-Mitgliedschaft besteht“.

In der Folge müsste demnach das Vereinigte Königreich, um am Datenaustausch beteiligt zu sein, zum Beispiel mit Europol und der europäischen Justizbehörde Eurojust eigene Verträge zur Datenweitergabe aushandeln, was allerdings aus Sicht der Juristen neue Schwierigkeiten nach sich ziehen könnte. „Abgesehen von der zeitlichen Dauer, die solche Verhandlungen benötigen, würde sich möglicherweise auch der Nachteil ergeben, dass das Vereinigte Königreich als Drittstaat nicht mehr direkt z.B. im Europol-Informations-System nach Daten suchen könnte, sondern dies über Europol abwickeln müsste“, heißt es in dem Gutachten.

Beim Zugang zu anderen Datenbanken ergäben sich ähnliche Probleme, schreiben die Experten weiter. So stehe der Zugang zur Eurodac-Datenbank mit Fingerabdruckdaten derzeit nur EU-Mitgliedstaaten oder Dublin-Staaten wie zum Beispiel Norwegen offen. „Ein Zugang zu dieser Datenbank könnte erfordern, Dublin-Staat zu werden, was aber im Falle des Vereinigten Königreichs unwahrscheinlich ist.“

Was das für die Sicherheit Europas bedeutet, brachte unlängst Europol-Chef Rob Wainwright auf den Punkt. „Die Briten sind der stärkste Lieferant von Geheimdienstinformationen für die Datenbanken von Europol“, sagte Wainwright der „Welt“.  Rund ein Drittel aller Ermittlungsfälle gingen auf Hinweise der britischen Behörden zurück. Londons Beitrag zur europäischen Polizeiarbeit habe seit 2014 um 50 Prozent pro Jahr zugenommen.

Dass Großbritannien ein wichtiger Partner für Europol ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen. Laut „Welt“ überstellten die Briten zwischen April 2010 und März 2015 mehr als 5000 mutmaßliche Kriminelle an andere EU-Staaten, von denen nur vier Prozent Briten waren. Im Gegenzug hätten die EU-Partner 655 Verdächtige an Großbritannien übergeben, 57 Prozent von ihnen britische Staatsbürger.

Die Schwächung des europäischen Anti-Terror-Kampfs kommt just in einer Phase, wo die EU-Polizeiagentur mehr Kompetenzen erhalten soll. Im Mai beschlossen der Rat und das Parlament der Europäischen Union die neue Europol-Verordnung, die ab 1. Mai 2017 gültig ist. Danach soll die Behörde mehr Zugang zu Datenbanken und mehr Datentausch mit privaten Stellen und eine Meldestelle zur Entfernung von Internetinhalten bekommen.

Großbritannien hätte zwar die Möglichkeit, die Verordnung im Rahmen eines „Opt-In“ anzunehmen und weiter an Europol teilzunehmen. Das ist jedoch nach dem Brexit-Votum unwahrscheinlich. Auch ohne Aktivierung des Artikels 50 der EU-Verträge, mit der der Brexit vollzogen wird,  müssen britische Beamte deshalb von Europol abgezogen werden. Sämtlicher Datentausch von Europol mit Behörden in Großbritannien ist dann nicht mehr erlaubt.


Europol-Chef warnt vor „gefährlicher Sicherheitslücke“

Der Europaexperte der Linksfraktion im Bundestag, Andrej Hunko, plädierte vor diesem Hintergrund für eine „kritische Reflexion der gesamten europäischen Polizei- und Geheimdienstzusammenarbeit“. Seit dem 11. September 2001 habe die Europäische Union rund 300 Anti-Terror-Maßnahmen beschlossen, sagte Hunko dem Handelsblatt. Europol sei damals erst zwei Jahre alt gewesen. Heute sehe sich die Behörde als „Drehscheibe für die Terrorismusbekämpfung“.

Hunko gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass eine EU, die eine polizeistaatliche Sicherheitspolitik in den Mittelpunkt stelle, von einer Mehrheit „als Bedrohung wahrgenommen“ werde. „Bevor also neue Maßnahmen beschlossen werden, sollten die bereits begonnenen überprüft und wenn nötig auch zurückgefahren werden“, sagte der Linken-Politiker. Die Arbeit von Europol müsse dabei im Zentrum der Untersuchung stehen.

Europol-Chef Wainwright sieht indes seine Behörde ohne die Briten vor schwierigen Zeiten. „Denn Großbritannien war schon immer ein aktiver Gestalter der EU-Justiz- und Innenpolitik“, schrieb Wainwright im Juni in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Britische Behörden hätten ihre Zusammenarbeit über Europol im Laufe der Jahre stetig intensiviert. So würden nicht nur Ermittlungserkenntnisse routinemäßig zwischen Großbritannien und den anderen EU-Mitgliedstaaten ausgetauscht. Auch bei der Planung von operativen Maßnahmen habe das Vereinigte Königreich bei mehr als der Hälfte der wichtigsten Projekte eine führende Rolle gespielt.

Auch Deutschland sieht in Großbritannien einen wichtigen Sicherheitspartner. „Die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten über Europol, gemeinsam mit Großbritannien als verlässlichem EU-Partner, wurde mir auch durch meine regelmäßigen Kontakte mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, immer wieder vor Augen geführt“, schreibt Wainwright in seinem Beitrag. Der BKA-Präsident teile daher seine Auffassung, dass auf operativer Ebene - speziell in der Terrorismusbekämpfung - als direkte Folge des Brexit „eine gefährliche Sicherheitslücke entstehen würde“.

Es gebe zwar britische Stimmen, die behaupteten, dass die Erfolge im Anti-Terror-Kampf auch ohne eine Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU bewahrt werden könnten, erklärte Wainwright. „Aber das Aufbrechen einer gewachsenen Gesetzgebung, technischer Expertise, internationaler Beziehungen und polizeilichen Fachwissens, die über Jahre gewachsen sind, ist ein unkalkulierbares Risiko – sowohl für das Vereinigte Königreich als auch für Deutschland und die anderen EU-Staaten.“ Insbesondere angesichts des Ausmaßes der Bedrohungen, mit denen die Europäer derzeit konfrontiert seien, und auch angesichts der zunehmend begrenzten Ressourcen der europäischen Strafverfolgungsbehörden. 

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