Bundestagswahl Parteien kämpfen um türkischstämmige Wähler

Politiker reagieren auf den Boykottaufruf des türkischen Präsidenten Erdogan für die Bundestagswahl. Denn die Parteien hoffen selbst auf die türkischstämmigen Wähler — und auf die Deutsch-Russen.

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Eine junge Türkin gibt ihre Stimme ab. Bei der Bundestagswahl können rund 1,3 Millionen Deutschtürken wählen. Quelle: dpa

Berlin Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat mit seinem Boykottaufruf für die Bundestagswahl den Blick auf das Wahlverhalten der Deutschen mit Migrationshintergrund gelenkt. Denn vor allem die türkisch- und russischstämmigen deutschen Wähler sind begehrte Zielgruppen für die Parteien. Das erklärt auch, warum sich sowohl Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel als auch Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) sofort jede Einmischung Erdogans verbeten haben.

Allerdings rechnen die deutschen Sicherheitsbehörden damit, dass auch die russische Regierung noch in der ein oder anderen Form Einfluss auf den Wahlkampf ausüben will – auch wenn Präsident Wladimir Putin dies dementierte. Ähnliche Vorwürfe hatte es bereits bei den Präsidentschaftswahlen in den USA und Frankreich gegeben.

Für den Ausgang der Bundestagswahl gelten die beiden Wählergruppen zwar nicht als entscheidend. Doch sie sind groß genug, um bei kleinen Parteien wie der rechtspopulistischen AfD einen Einfluss zu haben. Immerhin gibt es rund 1,3 Millionen wahlberechtigte Deutschtürken. Und rund zwei Millionen Deutsche haben Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion.

Die Parteien haben bisher sehr unterschiedlich vom Verhalten dieser Wähler profitiert: So galten die Deutsch-Türken laut Studien mehrheitlich als Wähler der SPD. Russischstämmige Deutsche neigten dagegen eher dazu, konservativen Parteien ihre Stimme zu geben.

Gabriel und Merkel zeigen sich überzeugt, dass Erdogans Aufruf, nicht CDU, SPD oder Grüne zu wählen, letztlich ohne Wirkung bleiben werde. „Ich setze darauf, dass die türkischstämmigen Deutschen sich davon nicht beeindrucken lassen und sich ihre eigene Meinung bilden. Entscheidend ist, dass die Menschen zur Wahl gehen und ihre Rechte wahrnehmen“, sagte Gabriel. Auch die Kanzlerin rief alle Deutsch-Türken ausdrücklich zur Wahl auf.

Wie genau sich anhaltender Druck aus Ankara auswirken könnte, wagt niemand vorherzusagen. Immerhin stimmten 63 Prozent der in Deutschland lebenden Türken für das umstrittene Verfassungsreferendum, das Erdogan weitgehende Macht in der Türkei sichert. Diese Gruppe ist zwar nicht identisch mit den Wahlberechtigten in Deutschland. Aber die „Süddeutsche Zeitung“ zitiert eine Nachwahlanalyse des Meinungsforschungsunternehmens Data4U, nach der 60 Prozent der Befragten, die die SPD wählen würden, bei Türkei-Wahlen für die islamisch-konservative Regierungspartei AKP stimmen. Data4U-Chef Joachim Schulte erwartet nun zumindest eine sinkende Wahlbeteiligung. Unklar ist aber, ob Erdogans Druck nicht nach hinten losgeht, weil ihn die ebenfalls große kurdischstämmige Bevölkerung in Deutschland sehr kritisch sieht.


Auch Deutsch-Russen stehen im Fokus

Bei den Russland-Deutschen sieht dies ganz anders aus: „Die deutsch-russische Community könnte in einigen Gebieten einen besonders großen Einfluss auf kleinere Parteien wie die AfD haben“, sagte Richard Hilmner, Chef des Berliner Thinktanks Policy Matters. So könnte die AfD 15 bis 20 Prozent der Stimmen dieser Gruppe bekommen, glaubt Achim Goerres, Professor an der Universität Duisburg. Ein entscheidender Grund: Wie in Osteuropa stößt auch bei den Russland-Deutschen die Flüchtlingspolitik auf besonders scharfe Kritik.

So erntete der AfD-Co-Vorsitzende Jörg Meuthen bei einer Versammlung vor Russland-Deutschen nahe Pforzheim vor wenigen Wochen heftigen Applaus, als er vor einer „Islamisierung“ Deutschlands warnte. Als meinungsbildend gilt dabei, dass viele Russland-Deutsche ihre Informationen immer noch über russischsprachige Medien beziehen – denen von deutschen Sicherheitsbehörden teilweise die Verbreitung von Falschnachrichten wie etwa im Fall eines angeblich von Flüchtlingen vergewaltigten Mädchens in Berlin vorgeworfen wird. „Es stimmt, dass Russland seit 2008 eine aggressive Medienkampagne fährt und die AfD sich aktiv um diese Gruppe bemüht“, sagt Felix Rieser vom Lev-Kopelev-Forum in Köln. „Aber es ist Unsinn anzunehmen, dass alle darauf hereinfallen.“

Seit die anderen Parteien bei den jüngsten Landtagswahlen den Hang von Russland-Deutschen zur AfD entdeckt haben, versuchen sie zudem entgegenzusteuern. CDU-Chefin Merkel etwa traf sich im Mai mit Vertretern deutsch-russischer Gruppen. Auch SPD und Linkspartei pflegen Kontakte jetzt intensiver.

Und anders als früher verstärken deutsche Politiker auch die öffentliche Ansprache an solche Wählergruppen. Die Grünen twitterten in Anspielung auf den Spitzenkandidaten Cem Özdemir: „Erdogan ärgern, Özdemir wählen!“. Und Kanzlerin Merkel appellierte an die türkischstämmigen Deutschen, ihre Freiheit in der Bundesrepublik zu genießen: „Ich lade alle ein, hier ihre Stimme abzugeben in einem freien Land. Darauf sind wir stolz“, sagte sie vergangenen Freitag.

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